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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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ber schwebenden Untersuchungen und Forschungen einlassen zu können oder zu
wollen, dürfen wir doch als ein feststehendes Resultat aussprechen, daß der¬
jenige Strom der Culturentwickelung, in welchem auch unsere Gegenwart
noch forttreibt, so weit wir bis jetzt sehen können, in Aegypten -- selbstverständ¬
lich aber nicht hier allein -- seine Quellen hat. So wie Tochter seine Aufgabe
gefaßt hat, mußte daher Aegypten und nicht Indien sein Ausgangspunkt sein.

In wie weit man nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung berech¬
tigt ist, einen so intensiven, so bestimmenden Einfluß dieser ägyptischen Welt
auf die semitischen Culturvölker -- Phönizier, Babhlonier und Assyrer auf
der einen Seite, Jsraeliten auf der andern, anzunehmen, wie Tochter es thut,
gäbe Stoff zu weitgedehnten Controversen, die wir mit Absicht vermeiden.
Aber wie dem auch sei -- und seit dem Jahre 1869 sind gerade in diesem
Bereich so viel neue fruchtbare Thatsachen der wissenschaftlichen Forschung
zugeführt worden, daß der damalige Stand unserer Kenntnisse heute als ein
ziemlich antiquirter erscheint -- jedenfalls hätte ein sehr wesentliches Bindeglied
zwischen der semitischen, immerhin durch den Geist Aegyptens recht eigentlich
geformten Culturwelt und der der Griechen, nicht übergangen werden dürfen,
nämlich Kleinasien und seine eigenthümliche Mischung indogermanischen und
semitischen Blutes und Geistes. Allerdings haben gerade hier erst die letzten
Jahre zu ganz unerwartet reicher Ausbeute an Entdeckungen geführt, doch
betreffen sie zunächst die bildende Kunst und das einheimische Sprachmaterial;
und schon ehe sich diese Schatzkammern für uns öffneten, war aus den andern
Denkmälern der Geschichte, namentlich aus dem, was die griechische Tradition
von der Geschichte Kleinasiens erhalten hat, doch in der Hauptsache oder in
den Hauptumrissen alles das deutlich zu erkennen, was durch jene neuesten
Forschungen und Entdeckungen im Einzelnen bestätigt und ergänzt wird.

Vermissen wir nach dem eben Ausgeführten die präcise Formulirung und
konsequente Durchführung der Aufgabe des Buches, so wird auch für das
Einzelne überall zwar der redlichste Wille, ein ungewöhnlicher und deßhalb im
höchsten Grad lobenswerther Aufwand von Fleiß und Belesenheit, ein ernstes
Bestreben, das Material möglichst von den leitenden Ideen durchdringen zu
lassen und es in einer möglichst klaren und von aller Selbstgefälligkeit freien
Einfachheit darzustellen, unbedingt anzuerkennen sein, aber der eigentliche Mann
von Fach wird, selbst wenn er sich erinnert, daß es ein Buch von 1859 und
nicht von 1872 ist, sehr häufig sich des Eindrucks nicht erwehren können,
daß alle die erwähnten Vorzüge doch nicht ausreichen, um die Aufgabe, die
sich der Verfasser gestellt hat, zu lösen. Ein Historiker, der etwa denselben
Gesichtskreis wie Tochter zum Felde seiner Darstellung auswählte, kann
natürlich nicht zu gleicher Zeit in der indischen, ägyptischen, semitischen Spe-
cialforschung und den darauf gegründeten Wissenschaften stehen. Ein einziges


ber schwebenden Untersuchungen und Forschungen einlassen zu können oder zu
wollen, dürfen wir doch als ein feststehendes Resultat aussprechen, daß der¬
jenige Strom der Culturentwickelung, in welchem auch unsere Gegenwart
noch forttreibt, so weit wir bis jetzt sehen können, in Aegypten — selbstverständ¬
lich aber nicht hier allein — seine Quellen hat. So wie Tochter seine Aufgabe
gefaßt hat, mußte daher Aegypten und nicht Indien sein Ausgangspunkt sein.

In wie weit man nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung berech¬
tigt ist, einen so intensiven, so bestimmenden Einfluß dieser ägyptischen Welt
auf die semitischen Culturvölker — Phönizier, Babhlonier und Assyrer auf
der einen Seite, Jsraeliten auf der andern, anzunehmen, wie Tochter es thut,
gäbe Stoff zu weitgedehnten Controversen, die wir mit Absicht vermeiden.
Aber wie dem auch sei — und seit dem Jahre 1869 sind gerade in diesem
Bereich so viel neue fruchtbare Thatsachen der wissenschaftlichen Forschung
zugeführt worden, daß der damalige Stand unserer Kenntnisse heute als ein
ziemlich antiquirter erscheint — jedenfalls hätte ein sehr wesentliches Bindeglied
zwischen der semitischen, immerhin durch den Geist Aegyptens recht eigentlich
geformten Culturwelt und der der Griechen, nicht übergangen werden dürfen,
nämlich Kleinasien und seine eigenthümliche Mischung indogermanischen und
semitischen Blutes und Geistes. Allerdings haben gerade hier erst die letzten
Jahre zu ganz unerwartet reicher Ausbeute an Entdeckungen geführt, doch
betreffen sie zunächst die bildende Kunst und das einheimische Sprachmaterial;
und schon ehe sich diese Schatzkammern für uns öffneten, war aus den andern
Denkmälern der Geschichte, namentlich aus dem, was die griechische Tradition
von der Geschichte Kleinasiens erhalten hat, doch in der Hauptsache oder in
den Hauptumrissen alles das deutlich zu erkennen, was durch jene neuesten
Forschungen und Entdeckungen im Einzelnen bestätigt und ergänzt wird.

Vermissen wir nach dem eben Ausgeführten die präcise Formulirung und
konsequente Durchführung der Aufgabe des Buches, so wird auch für das
Einzelne überall zwar der redlichste Wille, ein ungewöhnlicher und deßhalb im
höchsten Grad lobenswerther Aufwand von Fleiß und Belesenheit, ein ernstes
Bestreben, das Material möglichst von den leitenden Ideen durchdringen zu
lassen und es in einer möglichst klaren und von aller Selbstgefälligkeit freien
Einfachheit darzustellen, unbedingt anzuerkennen sein, aber der eigentliche Mann
von Fach wird, selbst wenn er sich erinnert, daß es ein Buch von 1859 und
nicht von 1872 ist, sehr häufig sich des Eindrucks nicht erwehren können,
daß alle die erwähnten Vorzüge doch nicht ausreichen, um die Aufgabe, die
sich der Verfasser gestellt hat, zu lösen. Ein Historiker, der etwa denselben
Gesichtskreis wie Tochter zum Felde seiner Darstellung auswählte, kann
natürlich nicht zu gleicher Zeit in der indischen, ägyptischen, semitischen Spe-
cialforschung und den darauf gegründeten Wissenschaften stehen. Ein einziges


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[0415] ber schwebenden Untersuchungen und Forschungen einlassen zu können oder zu wollen, dürfen wir doch als ein feststehendes Resultat aussprechen, daß der¬ jenige Strom der Culturentwickelung, in welchem auch unsere Gegenwart noch forttreibt, so weit wir bis jetzt sehen können, in Aegypten — selbstverständ¬ lich aber nicht hier allein — seine Quellen hat. So wie Tochter seine Aufgabe gefaßt hat, mußte daher Aegypten und nicht Indien sein Ausgangspunkt sein. In wie weit man nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung berech¬ tigt ist, einen so intensiven, so bestimmenden Einfluß dieser ägyptischen Welt auf die semitischen Culturvölker — Phönizier, Babhlonier und Assyrer auf der einen Seite, Jsraeliten auf der andern, anzunehmen, wie Tochter es thut, gäbe Stoff zu weitgedehnten Controversen, die wir mit Absicht vermeiden. Aber wie dem auch sei — und seit dem Jahre 1869 sind gerade in diesem Bereich so viel neue fruchtbare Thatsachen der wissenschaftlichen Forschung zugeführt worden, daß der damalige Stand unserer Kenntnisse heute als ein ziemlich antiquirter erscheint — jedenfalls hätte ein sehr wesentliches Bindeglied zwischen der semitischen, immerhin durch den Geist Aegyptens recht eigentlich geformten Culturwelt und der der Griechen, nicht übergangen werden dürfen, nämlich Kleinasien und seine eigenthümliche Mischung indogermanischen und semitischen Blutes und Geistes. Allerdings haben gerade hier erst die letzten Jahre zu ganz unerwartet reicher Ausbeute an Entdeckungen geführt, doch betreffen sie zunächst die bildende Kunst und das einheimische Sprachmaterial; und schon ehe sich diese Schatzkammern für uns öffneten, war aus den andern Denkmälern der Geschichte, namentlich aus dem, was die griechische Tradition von der Geschichte Kleinasiens erhalten hat, doch in der Hauptsache oder in den Hauptumrissen alles das deutlich zu erkennen, was durch jene neuesten Forschungen und Entdeckungen im Einzelnen bestätigt und ergänzt wird. Vermissen wir nach dem eben Ausgeführten die präcise Formulirung und konsequente Durchführung der Aufgabe des Buches, so wird auch für das Einzelne überall zwar der redlichste Wille, ein ungewöhnlicher und deßhalb im höchsten Grad lobenswerther Aufwand von Fleiß und Belesenheit, ein ernstes Bestreben, das Material möglichst von den leitenden Ideen durchdringen zu lassen und es in einer möglichst klaren und von aller Selbstgefälligkeit freien Einfachheit darzustellen, unbedingt anzuerkennen sein, aber der eigentliche Mann von Fach wird, selbst wenn er sich erinnert, daß es ein Buch von 1859 und nicht von 1872 ist, sehr häufig sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß alle die erwähnten Vorzüge doch nicht ausreichen, um die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hat, zu lösen. Ein Historiker, der etwa denselben Gesichtskreis wie Tochter zum Felde seiner Darstellung auswählte, kann natürlich nicht zu gleicher Zeit in der indischen, ägyptischen, semitischen Spe- cialforschung und den darauf gegründeten Wissenschaften stehen. Ein einziges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/415>, abgerufen am 26.08.2024.