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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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daß eine solche elementare Verwandtschaft auch bei späterer ganz eigenartiger
Entwickelung des bewußten Volksgeistes gewisse analoge oder verwandte Er¬
scheinungen hüben und drüben hervorgebracht haben werde, die man aus diesem
Gesichtspunkt mit einander vergleichen und auf ihre innere Gesetzmäßigkeit
untersuchen könne, also etwa so wie der vergleichende Anatom oder Physiologe
verfährt. Aber ein solches Verfahren liegt ganz außerhalb der Absicht Twestens:
er will nicht alle die Gesetze mit Hülfe der comparativen Methode darlegen,
auf denen die in der gesammten Menschheit erscheinenden Formen des geschicht¬
lichen Daseins beruhen, sondern nur diejenigen, welche das Werden und die
Entwickelung unsres eignen Geistes bedingen. Es handelt sich nicht um eine
comparative Anthropologie, sondern um die genetische Culturgeschichte der mo¬
dernen Welt, und in dieser hat Indien höchstens eine passive Rolle als Object
tausendjähriger Begehrlichkeit seiner Nachbarn, oder in der Neuzeit als passives
Substrat der mercantilen und maritimen Thätigkeit der europäischen Cultur¬
völker.

Genau mit demselben Recht wie Indien würde auch China und seine
Cultur einen Platz, und mit besseren Rechte als Indien, den ersten Platz bean¬
spruchen. Den ersten, weil die chinesische Cultur unzweifelhaft zeitlich viel
früher als die indische zu einem relativen Abschluß gelangt ist, noch mehr
aber, weil sie in ihrem Wesen, in dem Ideal welches der chinesische Volks¬
geist zu verwirklichen bestrebt ist, aus einer viel einfacheren und in sich be¬
schlossenen Stufe der Entwickelung des allgemein menschlichen Seelenlebens
steht. Daß Tochter China nicht berücksichtigt hat, erklärt sich wohl nur eben
aus dieser primitiven Originalität seiner Cultur, die zwar auch die großen
Grundformen dessen, was man überhaupt Cultur nennt, Religion, Staat,
Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Industrie:c. und zwar mit der energischsten
Intensität, aber zugleich so originell entwickelt hat, daß ein verständiger Be¬
obachter gar nicht darauf verfallen wird, Verbindungsfäden zwischen ihr und
der übrigen Weltcultur auffinden zu wollen.

Je weiter die moderne Wissenschaft der Aegyptologie fortschreitet, desto
deutlicher stellt sich zweierlei heraus: einmal der autochthone Ursprung der
ägyptischen Cultur -- wobei freilich der Forschung in der Zukunft immer
noch die Möglichkeit offen bleibt, das, was wir jetzt vom Standpunkt uns¬
res Wissens mit Recht als autochthon bezeichnen, auf jetzt noch ganz uner-
schlossne Wurzeln zurückzuführen -- zweitens, der weitreichende Einfluß, den
diese ägyptische Cultur auf die vorder-asiatischen Völker semitischer und indo¬
germanischer Herkunft geübt hat, wobei für uns das Wichtigste bleibt, daß
die bei den Griechen selbst umlaufende pietätvolle Sage von der Abhängigkeit
ihrer eignen Bildung von der der Aegypter je länger je mehr urkundliche
Beglaubigung erhält. Ohne uns hier auf das so verwickelte Detail der hiern-


daß eine solche elementare Verwandtschaft auch bei späterer ganz eigenartiger
Entwickelung des bewußten Volksgeistes gewisse analoge oder verwandte Er¬
scheinungen hüben und drüben hervorgebracht haben werde, die man aus diesem
Gesichtspunkt mit einander vergleichen und auf ihre innere Gesetzmäßigkeit
untersuchen könne, also etwa so wie der vergleichende Anatom oder Physiologe
verfährt. Aber ein solches Verfahren liegt ganz außerhalb der Absicht Twestens:
er will nicht alle die Gesetze mit Hülfe der comparativen Methode darlegen,
auf denen die in der gesammten Menschheit erscheinenden Formen des geschicht¬
lichen Daseins beruhen, sondern nur diejenigen, welche das Werden und die
Entwickelung unsres eignen Geistes bedingen. Es handelt sich nicht um eine
comparative Anthropologie, sondern um die genetische Culturgeschichte der mo¬
dernen Welt, und in dieser hat Indien höchstens eine passive Rolle als Object
tausendjähriger Begehrlichkeit seiner Nachbarn, oder in der Neuzeit als passives
Substrat der mercantilen und maritimen Thätigkeit der europäischen Cultur¬
völker.

Genau mit demselben Recht wie Indien würde auch China und seine
Cultur einen Platz, und mit besseren Rechte als Indien, den ersten Platz bean¬
spruchen. Den ersten, weil die chinesische Cultur unzweifelhaft zeitlich viel
früher als die indische zu einem relativen Abschluß gelangt ist, noch mehr
aber, weil sie in ihrem Wesen, in dem Ideal welches der chinesische Volks¬
geist zu verwirklichen bestrebt ist, aus einer viel einfacheren und in sich be¬
schlossenen Stufe der Entwickelung des allgemein menschlichen Seelenlebens
steht. Daß Tochter China nicht berücksichtigt hat, erklärt sich wohl nur eben
aus dieser primitiven Originalität seiner Cultur, die zwar auch die großen
Grundformen dessen, was man überhaupt Cultur nennt, Religion, Staat,
Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Industrie:c. und zwar mit der energischsten
Intensität, aber zugleich so originell entwickelt hat, daß ein verständiger Be¬
obachter gar nicht darauf verfallen wird, Verbindungsfäden zwischen ihr und
der übrigen Weltcultur auffinden zu wollen.

Je weiter die moderne Wissenschaft der Aegyptologie fortschreitet, desto
deutlicher stellt sich zweierlei heraus: einmal der autochthone Ursprung der
ägyptischen Cultur — wobei freilich der Forschung in der Zukunft immer
noch die Möglichkeit offen bleibt, das, was wir jetzt vom Standpunkt uns¬
res Wissens mit Recht als autochthon bezeichnen, auf jetzt noch ganz uner-
schlossne Wurzeln zurückzuführen — zweitens, der weitreichende Einfluß, den
diese ägyptische Cultur auf die vorder-asiatischen Völker semitischer und indo¬
germanischer Herkunft geübt hat, wobei für uns das Wichtigste bleibt, daß
die bei den Griechen selbst umlaufende pietätvolle Sage von der Abhängigkeit
ihrer eignen Bildung von der der Aegypter je länger je mehr urkundliche
Beglaubigung erhält. Ohne uns hier auf das so verwickelte Detail der hiern-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/414>, abgerufen am 26.08.2024.