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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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gaben seines gegenwärtigen Berufes so entlegenen Thätigkeit zuzuwenden.
Erst als er nach langem Kampfe zwischen unheilbarem Siechthum und ener¬
gischer Zusammenraffung der äußersten Kräfte endlich sich resignirt in sein
Schicksal ergab und von der öffentlichen Thätigkeit zurücktrat, kehrte er wieder
zu dem Torso von 18S9 zurück, aber nur um einige Dispositionen über die
Art und Weise zu treffen, wie er nach seinem Tode der Wissenschaft nutzbar
gemacht werden könne. In Folge dessen erhielt endlich der jetzige Herausgeber
das Manuscript und hat es, wofür ihm der Dank nicht bloß der eigentlichen
wissenschaftlichen Kreise gebührt, vollständig, d. h. soweit es der Verfasser selbst
gebracht, in zwei mäßigen Bänden abdrucken lassen.

Denn ursprünglich war die Aufgabe um vieles weiter angelegt. Der
jugendliche Eifer Tochter's beabsichtigte nichts geringeres, als eine Culturge¬
schichte oder Philosophie der Culturgeschichte -- über den Namen noch später
-- der gesammten gebildeten Völker des Alterthums und der Neuzeit. Da¬
von ist nichts weiter ausgeführt als vielleicht, wenn man eine muthmaßliche
Schätzung ohne alle äußere Anhaltspunkte wagen darf, ein Dritttheil oder
wahrscheinlich noch weniger. Denn die "religiösen, politischen und socialen
Ideen der Jndier, Aegypter, Babylonier und Assyrier, der Iranier, Phönicier
und Jsraeliten" mögen immerhin dem Darsteller noch so bedeutsam erschienen
sein, keinesfalls würde er ihnen für sein eigenes Geistesleben und für dasje¬
nige seiner Zeit dieselbe innere Wichtigkeit beizulegen geneigt gewesen sein,
wie den Erzeugnissen der classischen Völker, der Griechen und Römer oder der
modernen Nationen. Dem innern Gewicht wird aber selbstverständlich der
äußere Umfang entsprechen: ein Culturhistoriker, welcher den Jndiern volle
150 Seiten zuwendet, kann mit den Griechen nicht auf ebenso vielen oder
wenigen sich abfinden. --

Diese fragmentarische Gestalt der Arbeit hebt eigentlich jedes entscheidende
Urtheil über ihren Werth auf. Dagegen behält sie jedenfalls den eines nach
verschiedenen Seiten hin sehr anregenden Denkmals einer bedeutenden und im
höchsten Sinne ehrenwerthen Persönlichkeit. Nicht der Historiker als solcher
wird nach unserer Meinung daraus lernen, sondern der Psychologe und
weniger vielleicht der Psychologe alten Stils, als derjenige, der die Gesetze des
innern Lebens in ganzen Gruppen und Kategorien von Individuen zu erfor¬
schen bestrebt ist.

Denn so hoch wir auch die individuelle Persönlichkeit Tochter's stellen
mögen, so ist er doch eben nur ein einzelner Mann, dessen Thaten und Ver¬
dienste in der dankbaren Erinnerung der Nachwelt nicht vergessen werden
sollen, wie sie auch lebendig in der Verkettung der Begebenheiten fort wirken
auch wo ihr ursprünglicher Anstoß nicht mehr bewußt gefühlt wird. Aber
eine so thurmhoch über die Reihen seiner andren wackrer Mitkämpfer her-


gaben seines gegenwärtigen Berufes so entlegenen Thätigkeit zuzuwenden.
Erst als er nach langem Kampfe zwischen unheilbarem Siechthum und ener¬
gischer Zusammenraffung der äußersten Kräfte endlich sich resignirt in sein
Schicksal ergab und von der öffentlichen Thätigkeit zurücktrat, kehrte er wieder
zu dem Torso von 18S9 zurück, aber nur um einige Dispositionen über die
Art und Weise zu treffen, wie er nach seinem Tode der Wissenschaft nutzbar
gemacht werden könne. In Folge dessen erhielt endlich der jetzige Herausgeber
das Manuscript und hat es, wofür ihm der Dank nicht bloß der eigentlichen
wissenschaftlichen Kreise gebührt, vollständig, d. h. soweit es der Verfasser selbst
gebracht, in zwei mäßigen Bänden abdrucken lassen.

Denn ursprünglich war die Aufgabe um vieles weiter angelegt. Der
jugendliche Eifer Tochter's beabsichtigte nichts geringeres, als eine Culturge¬
schichte oder Philosophie der Culturgeschichte — über den Namen noch später
— der gesammten gebildeten Völker des Alterthums und der Neuzeit. Da¬
von ist nichts weiter ausgeführt als vielleicht, wenn man eine muthmaßliche
Schätzung ohne alle äußere Anhaltspunkte wagen darf, ein Dritttheil oder
wahrscheinlich noch weniger. Denn die „religiösen, politischen und socialen
Ideen der Jndier, Aegypter, Babylonier und Assyrier, der Iranier, Phönicier
und Jsraeliten" mögen immerhin dem Darsteller noch so bedeutsam erschienen
sein, keinesfalls würde er ihnen für sein eigenes Geistesleben und für dasje¬
nige seiner Zeit dieselbe innere Wichtigkeit beizulegen geneigt gewesen sein,
wie den Erzeugnissen der classischen Völker, der Griechen und Römer oder der
modernen Nationen. Dem innern Gewicht wird aber selbstverständlich der
äußere Umfang entsprechen: ein Culturhistoriker, welcher den Jndiern volle
150 Seiten zuwendet, kann mit den Griechen nicht auf ebenso vielen oder
wenigen sich abfinden. —

Diese fragmentarische Gestalt der Arbeit hebt eigentlich jedes entscheidende
Urtheil über ihren Werth auf. Dagegen behält sie jedenfalls den eines nach
verschiedenen Seiten hin sehr anregenden Denkmals einer bedeutenden und im
höchsten Sinne ehrenwerthen Persönlichkeit. Nicht der Historiker als solcher
wird nach unserer Meinung daraus lernen, sondern der Psychologe und
weniger vielleicht der Psychologe alten Stils, als derjenige, der die Gesetze des
innern Lebens in ganzen Gruppen und Kategorien von Individuen zu erfor¬
schen bestrebt ist.

Denn so hoch wir auch die individuelle Persönlichkeit Tochter's stellen
mögen, so ist er doch eben nur ein einzelner Mann, dessen Thaten und Ver¬
dienste in der dankbaren Erinnerung der Nachwelt nicht vergessen werden
sollen, wie sie auch lebendig in der Verkettung der Begebenheiten fort wirken
auch wo ihr ursprünglicher Anstoß nicht mehr bewußt gefühlt wird. Aber
eine so thurmhoch über die Reihen seiner andren wackrer Mitkämpfer her-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/410>, abgerufen am 25.08.2024.