Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.andern Zuschnitt. Es gibt keinen kräftigen Typus im Guten oder im Sehen wir ab von der Frage, ob bei der localen Verschiedenheit der GrcnMm I. 1873. 6
andern Zuschnitt. Es gibt keinen kräftigen Typus im Guten oder im Sehen wir ab von der Frage, ob bei der localen Verschiedenheit der GrcnMm I. 1873. 6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0041" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129033"/> <p xml:id="ID_110" prev="#ID_109"> andern Zuschnitt. Es gibt keinen kräftigen Typus im Guten oder im<lb/> Schlechten, sondern eine Mannigfaltigkeit verkümmerter Typen, denen nur<lb/> Eines gemein ist: das Gefühl, außerhalb ihrer vier Pfähle nicht gewürdigt,<lb/> nicht verstanden, sondern eine Art Curiosität zu sein. Wir Deutsche haben<lb/> noch immer eine entsetzliche Angst vor der Centralisation und bei den Worten<lb/> Nivellirung, Uniformität schlagen wir womöglich neun Kreuze. Wir geben<lb/> zu, daß der politische Particularismus vom Uebel gewesen, den administrativen<lb/> und socialen Particularismus möchten wir als ein unschätzbares Kleinod hegen.<lb/> Wir vergessen, daß das Eine das Andere nach sich zieht, daß der administra¬<lb/> tive und sociale Particularismus die staatliche Einheit entweder wieder zerstören<lb/> wird oder ihr weichen muß. Wir thun sehr unrecht, uns vor dem Einerlei<lb/> zu fürchten. Die wahre, lebendige, tiefe Mannigfaltigkeit entwickelt sich nur<lb/> auf dem Grunde der Einheit. Erhielten wir den Landrath, den Amtsvor«<lb/> secher, den Schulzen und Schöffen der neuen preußischen Kreisordnung<lb/> beispielsweise nicht bloß in einigen Provinzen Preußens, so könnte ein<lb/> baierischer oder schwäbischer Amtsvorsteher durch die Eigenthümlichkeit seines<lb/> landschaftlichen Charaktertypus bei gleichem formellen Amtstypus auf der<lb/> Bühne genossen werden von Trier bis Memel und vom Bodensee bis zur<lb/> Nordsee, und ebenso könnten die altpreußischen Typen in ganz Deutschland<lb/> populär und verständlich sein. Wir würden so erst unserer Mannigfaltigkeit<lb/> bewußt werden, so erst sie vor Augen bekommen, so erst sie mit Behagen,<lb/> mit Rührung und Gelächter, je nachdem, genießen lernen, während wir jetzt<lb/> nur Aerger, Hindernisse und Mißverständnisse davon haben. Es gibt bis jetzt<lb/> nur ein paar Localtypen, in denen kein wahres Leben pulsirt. Doch ich<lb/> schreibe ja einen unpolitischen Brief. Weg womöglich von der Politik, die<lb/> heute bet uns in Allem das Spiel hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_111" next="#ID_112"> Sehen wir ab von der Frage, ob bei der localen Verschiedenheit der<lb/> amtlichen Functionen, welche überall den Typus der gesellschaftlichen Stände<lb/> bestimmen, eine wirkliche deutsche Gesellschaft entstehen kann. Begehen wir<lb/> uns auf den Boden der Einzelstaaten und zunächst in die Hauptstadt des<lb/> größten, so stoßen wir überall auf die Unfertigkeit der Gesellschaft. Wir sehen<lb/> das Beamtenthum in Berlin gesellschaftlich eingeengt, aus seiner leitenden<lb/> Stellung zurückgedrängt. Wir sehen eine reich werdende Gesellschaft über¬<lb/> schwemmt von rohen, ja grotesken Parvenus, die nicht Form, noch Borbild,<lb/> noch Schranke haben, am allerwenigsten aber Bildung und Geschmack. Sie<lb/> beherrschen einstweilen den Markt des Lebens und der Kunst, die sich noch<lb/> ziemlich tapfer gegen solche Gönner in .ihrem wahren Wesen zu behaupten<lb/> sucht. Aber das wird besser werden, wenn das Gefüge des Staates sich wieder<lb/> befestigt hat, wenn das Beamtenthum den neuen Weg der Staatsleitung<lb/> wieder wie ehedem mit Sicherheit gefunden und als der Träger eines in seinem</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> GrcnMm I. 1873. 6</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
andern Zuschnitt. Es gibt keinen kräftigen Typus im Guten oder im
Schlechten, sondern eine Mannigfaltigkeit verkümmerter Typen, denen nur
Eines gemein ist: das Gefühl, außerhalb ihrer vier Pfähle nicht gewürdigt,
nicht verstanden, sondern eine Art Curiosität zu sein. Wir Deutsche haben
noch immer eine entsetzliche Angst vor der Centralisation und bei den Worten
Nivellirung, Uniformität schlagen wir womöglich neun Kreuze. Wir geben
zu, daß der politische Particularismus vom Uebel gewesen, den administrativen
und socialen Particularismus möchten wir als ein unschätzbares Kleinod hegen.
Wir vergessen, daß das Eine das Andere nach sich zieht, daß der administra¬
tive und sociale Particularismus die staatliche Einheit entweder wieder zerstören
wird oder ihr weichen muß. Wir thun sehr unrecht, uns vor dem Einerlei
zu fürchten. Die wahre, lebendige, tiefe Mannigfaltigkeit entwickelt sich nur
auf dem Grunde der Einheit. Erhielten wir den Landrath, den Amtsvor«
secher, den Schulzen und Schöffen der neuen preußischen Kreisordnung
beispielsweise nicht bloß in einigen Provinzen Preußens, so könnte ein
baierischer oder schwäbischer Amtsvorsteher durch die Eigenthümlichkeit seines
landschaftlichen Charaktertypus bei gleichem formellen Amtstypus auf der
Bühne genossen werden von Trier bis Memel und vom Bodensee bis zur
Nordsee, und ebenso könnten die altpreußischen Typen in ganz Deutschland
populär und verständlich sein. Wir würden so erst unserer Mannigfaltigkeit
bewußt werden, so erst sie vor Augen bekommen, so erst sie mit Behagen,
mit Rührung und Gelächter, je nachdem, genießen lernen, während wir jetzt
nur Aerger, Hindernisse und Mißverständnisse davon haben. Es gibt bis jetzt
nur ein paar Localtypen, in denen kein wahres Leben pulsirt. Doch ich
schreibe ja einen unpolitischen Brief. Weg womöglich von der Politik, die
heute bet uns in Allem das Spiel hat.
Sehen wir ab von der Frage, ob bei der localen Verschiedenheit der
amtlichen Functionen, welche überall den Typus der gesellschaftlichen Stände
bestimmen, eine wirkliche deutsche Gesellschaft entstehen kann. Begehen wir
uns auf den Boden der Einzelstaaten und zunächst in die Hauptstadt des
größten, so stoßen wir überall auf die Unfertigkeit der Gesellschaft. Wir sehen
das Beamtenthum in Berlin gesellschaftlich eingeengt, aus seiner leitenden
Stellung zurückgedrängt. Wir sehen eine reich werdende Gesellschaft über¬
schwemmt von rohen, ja grotesken Parvenus, die nicht Form, noch Borbild,
noch Schranke haben, am allerwenigsten aber Bildung und Geschmack. Sie
beherrschen einstweilen den Markt des Lebens und der Kunst, die sich noch
ziemlich tapfer gegen solche Gönner in .ihrem wahren Wesen zu behaupten
sucht. Aber das wird besser werden, wenn das Gefüge des Staates sich wieder
befestigt hat, wenn das Beamtenthum den neuen Weg der Staatsleitung
wieder wie ehedem mit Sicherheit gefunden und als der Träger eines in seinem
GrcnMm I. 1873. 6
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |