Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Menschheit verloren gehen würde. Herr Virchow schöpft seine Weisheit
jedenfalls aus dem deutschen Mythus über die amerikanische Kirchenpolitik.
nominell erkennt der Staat dort freilich nur lokale Kirchengemeinden an.
Aber dabei hat der Katholicismus in Amerika eine Ausbreitung gewonnen,
welche den ganzen Charakter der Union eines Tages verändern und möglicher
Weise die Ursache neuer Bürgerkriege werden wird. Wäre Herr Virchow
klüger, so könnte man ihn für einen versteckten Jesuitenfreund halten. Denn
das Recept, welches er der evangelischen Kirche vorschreiben will, würde zur
Folge haben, daß Deutschland den Jesuiten anheim fiele, daß wir einen Staat
erhielten, der, wie in den romanischen Ländern, nicht die Kraft hat, die Kirche
auf das religiöse Gebiet zu beschränken; daß unser Geistesleben, wie ebenfalls
in den romanischen Ländern, auseinandersiele in den traurigen Gegensatz von
Aberglauben auf der einen und Freigeisterei, theils frivol theils pessimi¬
stisch, auf der andern Seite. Der Beruf der evangelischen Kirche ist die An¬
leitung der Menschheit zu der Wahrheit, daß der Quell des sittlichen Lebens
in, der Tiefe des Gewissens immer aufs Neue erarbeitet und befreit werden
muß. Mit dieser Wahrheit, welche wie jede praktische Wahrheit der Nahrung
und der Pflege bedarf, welche dem ewig in Bewegung begriffenen Inhalt des
Lebens gegenüber immer aufs Neue erkannt und in ihren concreten Beziehun¬
gen dargestellt werden muß, mit dieser Wahrheit ginge jeder höhere Werth der
Cultur für die Menschheit verloren. Wenn der Staat dafür sorgt, daß die
Botanik und Entomologie nicht bloß privatim gepflegt werden, so hat er
mindestens dasselbe Interesse der Pflege der sittlichen Wahrheit zu widmen. Herr
Virchow, dieß Zeugniß wollen wir ihm ausdrücklich geben, ist jedoch kein Jesuiten¬
freund, sondern, auch wenn er den kirchlichen Organismus "genau auf dieselbe Linie
mit dem Straßenfiscus stellt," nur ein kurzsichtiger und selbstgefälliger Cyniker.

Die Majorität der Abgeordneten hat schließlich die Ausgaben für den
Oberkirchenrath bewilligt. Wir aber können den Wunsch nicht zurückhalten,
daß die Neubildung der evangelischen Kirchenverfassung, welche beabsichtigt
wird, dazu führe, die Leistungen des Staates für die Kirche ein für alle Mal
gesetzlich festzustellen. Denn es ist ein peinliches Gefühl, Einrichtungen, die
mit dem Heiligsten zusammenhängen, von Rednern, wie Herr Virchow, all¬
jährlich in Frage gestellt zu sehen, und nicht zu wissen, ob irgend eine Ma¬
jorität nicht einmal zu einem Beschluß hingerissen wird, der allerdings keine
dauernde Kraft, aber doch sehr schädliche Folgen haben könnte.

Wir übergehen diejenigen Verhandlungen über die Ausgaben des Cultus¬
ministeriums, welche am 27. Februar geführt wurden. Am 28. Februar kam
unter den einmaligen und außerordenstlichen Ausgaben des Cultusministeriums
ein Posten von 26.000 Thlr. zur Sprache, welcher bestimmt ist, die Kosten
der Synoden zu decken, welche berufen werden sollen zur Neubildung der


die Menschheit verloren gehen würde. Herr Virchow schöpft seine Weisheit
jedenfalls aus dem deutschen Mythus über die amerikanische Kirchenpolitik.
nominell erkennt der Staat dort freilich nur lokale Kirchengemeinden an.
Aber dabei hat der Katholicismus in Amerika eine Ausbreitung gewonnen,
welche den ganzen Charakter der Union eines Tages verändern und möglicher
Weise die Ursache neuer Bürgerkriege werden wird. Wäre Herr Virchow
klüger, so könnte man ihn für einen versteckten Jesuitenfreund halten. Denn
das Recept, welches er der evangelischen Kirche vorschreiben will, würde zur
Folge haben, daß Deutschland den Jesuiten anheim fiele, daß wir einen Staat
erhielten, der, wie in den romanischen Ländern, nicht die Kraft hat, die Kirche
auf das religiöse Gebiet zu beschränken; daß unser Geistesleben, wie ebenfalls
in den romanischen Ländern, auseinandersiele in den traurigen Gegensatz von
Aberglauben auf der einen und Freigeisterei, theils frivol theils pessimi¬
stisch, auf der andern Seite. Der Beruf der evangelischen Kirche ist die An¬
leitung der Menschheit zu der Wahrheit, daß der Quell des sittlichen Lebens
in, der Tiefe des Gewissens immer aufs Neue erarbeitet und befreit werden
muß. Mit dieser Wahrheit, welche wie jede praktische Wahrheit der Nahrung
und der Pflege bedarf, welche dem ewig in Bewegung begriffenen Inhalt des
Lebens gegenüber immer aufs Neue erkannt und in ihren concreten Beziehun¬
gen dargestellt werden muß, mit dieser Wahrheit ginge jeder höhere Werth der
Cultur für die Menschheit verloren. Wenn der Staat dafür sorgt, daß die
Botanik und Entomologie nicht bloß privatim gepflegt werden, so hat er
mindestens dasselbe Interesse der Pflege der sittlichen Wahrheit zu widmen. Herr
Virchow, dieß Zeugniß wollen wir ihm ausdrücklich geben, ist jedoch kein Jesuiten¬
freund, sondern, auch wenn er den kirchlichen Organismus „genau auf dieselbe Linie
mit dem Straßenfiscus stellt," nur ein kurzsichtiger und selbstgefälliger Cyniker.

Die Majorität der Abgeordneten hat schließlich die Ausgaben für den
Oberkirchenrath bewilligt. Wir aber können den Wunsch nicht zurückhalten,
daß die Neubildung der evangelischen Kirchenverfassung, welche beabsichtigt
wird, dazu führe, die Leistungen des Staates für die Kirche ein für alle Mal
gesetzlich festzustellen. Denn es ist ein peinliches Gefühl, Einrichtungen, die
mit dem Heiligsten zusammenhängen, von Rednern, wie Herr Virchow, all¬
jährlich in Frage gestellt zu sehen, und nicht zu wissen, ob irgend eine Ma¬
jorität nicht einmal zu einem Beschluß hingerissen wird, der allerdings keine
dauernde Kraft, aber doch sehr schädliche Folgen haben könnte.

Wir übergehen diejenigen Verhandlungen über die Ausgaben des Cultus¬
ministeriums, welche am 27. Februar geführt wurden. Am 28. Februar kam
unter den einmaligen und außerordenstlichen Ausgaben des Cultusministeriums
ein Posten von 26.000 Thlr. zur Sprache, welcher bestimmt ist, die Kosten
der Synoden zu decken, welche berufen werden sollen zur Neubildung der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129398"/>
          <p xml:id="ID_1311" prev="#ID_1310"> die Menschheit verloren gehen würde. Herr Virchow schöpft seine Weisheit<lb/>
jedenfalls aus dem deutschen Mythus über die amerikanische Kirchenpolitik.<lb/>
nominell erkennt der Staat dort freilich nur lokale Kirchengemeinden an.<lb/>
Aber dabei hat der Katholicismus in Amerika eine Ausbreitung gewonnen,<lb/>
welche den ganzen Charakter der Union eines Tages verändern und möglicher<lb/>
Weise die Ursache neuer Bürgerkriege werden wird. Wäre Herr Virchow<lb/>
klüger, so könnte man ihn für einen versteckten Jesuitenfreund halten. Denn<lb/>
das Recept, welches er der evangelischen Kirche vorschreiben will, würde zur<lb/>
Folge haben, daß Deutschland den Jesuiten anheim fiele, daß wir einen Staat<lb/>
erhielten, der, wie in den romanischen Ländern, nicht die Kraft hat, die Kirche<lb/>
auf das religiöse Gebiet zu beschränken; daß unser Geistesleben, wie ebenfalls<lb/>
in den romanischen Ländern, auseinandersiele in den traurigen Gegensatz von<lb/>
Aberglauben auf der einen und Freigeisterei, theils frivol theils pessimi¬<lb/>
stisch, auf der andern Seite. Der Beruf der evangelischen Kirche ist die An¬<lb/>
leitung der Menschheit zu der Wahrheit, daß der Quell des sittlichen Lebens<lb/>
in, der Tiefe des Gewissens immer aufs Neue erarbeitet und befreit werden<lb/>
muß. Mit dieser Wahrheit, welche wie jede praktische Wahrheit der Nahrung<lb/>
und der Pflege bedarf, welche dem ewig in Bewegung begriffenen Inhalt des<lb/>
Lebens gegenüber immer aufs Neue erkannt und in ihren concreten Beziehun¬<lb/>
gen dargestellt werden muß, mit dieser Wahrheit ginge jeder höhere Werth der<lb/>
Cultur für die Menschheit verloren. Wenn der Staat dafür sorgt, daß die<lb/>
Botanik und Entomologie nicht bloß privatim gepflegt werden, so hat er<lb/>
mindestens dasselbe Interesse der Pflege der sittlichen Wahrheit zu widmen. Herr<lb/>
Virchow, dieß Zeugniß wollen wir ihm ausdrücklich geben, ist jedoch kein Jesuiten¬<lb/>
freund, sondern, auch wenn er den kirchlichen Organismus &#x201E;genau auf dieselbe Linie<lb/>
mit dem Straßenfiscus stellt," nur ein kurzsichtiger und selbstgefälliger Cyniker.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1312"> Die Majorität der Abgeordneten hat schließlich die Ausgaben für den<lb/>
Oberkirchenrath bewilligt. Wir aber können den Wunsch nicht zurückhalten,<lb/>
daß die Neubildung der evangelischen Kirchenverfassung, welche beabsichtigt<lb/>
wird, dazu führe, die Leistungen des Staates für die Kirche ein für alle Mal<lb/>
gesetzlich festzustellen. Denn es ist ein peinliches Gefühl, Einrichtungen, die<lb/>
mit dem Heiligsten zusammenhängen, von Rednern, wie Herr Virchow, all¬<lb/>
jährlich in Frage gestellt zu sehen, und nicht zu wissen, ob irgend eine Ma¬<lb/>
jorität nicht einmal zu einem Beschluß hingerissen wird, der allerdings keine<lb/>
dauernde Kraft, aber doch sehr schädliche Folgen haben könnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1313" next="#ID_1314"> Wir übergehen diejenigen Verhandlungen über die Ausgaben des Cultus¬<lb/>
ministeriums, welche am 27. Februar geführt wurden. Am 28. Februar kam<lb/>
unter den einmaligen und außerordenstlichen Ausgaben des Cultusministeriums<lb/>
ein Posten von 26.000 Thlr. zur Sprache, welcher bestimmt ist, die Kosten<lb/>
der Synoden zu decken, welche berufen werden sollen zur Neubildung der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0406] die Menschheit verloren gehen würde. Herr Virchow schöpft seine Weisheit jedenfalls aus dem deutschen Mythus über die amerikanische Kirchenpolitik. nominell erkennt der Staat dort freilich nur lokale Kirchengemeinden an. Aber dabei hat der Katholicismus in Amerika eine Ausbreitung gewonnen, welche den ganzen Charakter der Union eines Tages verändern und möglicher Weise die Ursache neuer Bürgerkriege werden wird. Wäre Herr Virchow klüger, so könnte man ihn für einen versteckten Jesuitenfreund halten. Denn das Recept, welches er der evangelischen Kirche vorschreiben will, würde zur Folge haben, daß Deutschland den Jesuiten anheim fiele, daß wir einen Staat erhielten, der, wie in den romanischen Ländern, nicht die Kraft hat, die Kirche auf das religiöse Gebiet zu beschränken; daß unser Geistesleben, wie ebenfalls in den romanischen Ländern, auseinandersiele in den traurigen Gegensatz von Aberglauben auf der einen und Freigeisterei, theils frivol theils pessimi¬ stisch, auf der andern Seite. Der Beruf der evangelischen Kirche ist die An¬ leitung der Menschheit zu der Wahrheit, daß der Quell des sittlichen Lebens in, der Tiefe des Gewissens immer aufs Neue erarbeitet und befreit werden muß. Mit dieser Wahrheit, welche wie jede praktische Wahrheit der Nahrung und der Pflege bedarf, welche dem ewig in Bewegung begriffenen Inhalt des Lebens gegenüber immer aufs Neue erkannt und in ihren concreten Beziehun¬ gen dargestellt werden muß, mit dieser Wahrheit ginge jeder höhere Werth der Cultur für die Menschheit verloren. Wenn der Staat dafür sorgt, daß die Botanik und Entomologie nicht bloß privatim gepflegt werden, so hat er mindestens dasselbe Interesse der Pflege der sittlichen Wahrheit zu widmen. Herr Virchow, dieß Zeugniß wollen wir ihm ausdrücklich geben, ist jedoch kein Jesuiten¬ freund, sondern, auch wenn er den kirchlichen Organismus „genau auf dieselbe Linie mit dem Straßenfiscus stellt," nur ein kurzsichtiger und selbstgefälliger Cyniker. Die Majorität der Abgeordneten hat schließlich die Ausgaben für den Oberkirchenrath bewilligt. Wir aber können den Wunsch nicht zurückhalten, daß die Neubildung der evangelischen Kirchenverfassung, welche beabsichtigt wird, dazu führe, die Leistungen des Staates für die Kirche ein für alle Mal gesetzlich festzustellen. Denn es ist ein peinliches Gefühl, Einrichtungen, die mit dem Heiligsten zusammenhängen, von Rednern, wie Herr Virchow, all¬ jährlich in Frage gestellt zu sehen, und nicht zu wissen, ob irgend eine Ma¬ jorität nicht einmal zu einem Beschluß hingerissen wird, der allerdings keine dauernde Kraft, aber doch sehr schädliche Folgen haben könnte. Wir übergehen diejenigen Verhandlungen über die Ausgaben des Cultus¬ ministeriums, welche am 27. Februar geführt wurden. Am 28. Februar kam unter den einmaligen und außerordenstlichen Ausgaben des Cultusministeriums ein Posten von 26.000 Thlr. zur Sprache, welcher bestimmt ist, die Kosten der Synoden zu decken, welche berufen werden sollen zur Neubildung der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/406
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/406>, abgerufen am 25.08.2024.