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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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talraten, welche vorbehaltlos an den Centralrath von den Ortsvereinen abge¬
sandt werden, kann der berliner Vorsehung das Recht freier Verfügung nicht
bestritten werden. Diese Rechtsvermuthung besteht jedoch von Haus aus nicht
für die Kassen, welche zu besonderen Zwecken von den steuernden unterhalten
werden, namentlich die Jnvalidenkassen. Und eben deßhalb hat sich das
Hirsch-Duncker'sche Musterstatut beeilt, die Verwaltung und Führung auch
dieser letzteren Kassen in die Hände des berliner Centralraths zu legen.*)

Zu dieser Centralisation des Jnvalidenkassenwesens liegen allerdings auch
höhere als bloße Agitations- und Leitungsgründe vor. Es muß ein Mitglied
des Jnvalidenkassenverbandes aus jedem Gewerk an jedem Ort, wenn er vermöge
der deutschen Gewerbefreiheit und Freizügigkeit Ort oder Gewerk -- wechselt, Mit¬
glied derselben Invalidenkasse bleiben können, in welche er bis dahin zahlte.
Es darf seine Anrechte durch Orts- oder Gewerkswechsel nicht verlieren. Aus
diesem Grunde muß eine Invalidenkasse, die sich zum Zweck stellt, die Inva¬
liden der Arbeit über ganz Deutschland zu versorgen, in der That centrali-
sirt sein. Aber wenn diese Centralisation -- vorausgesetzt, daß der Gedanke
einer allgemeinen deutschen Arbeiterinvalidenkasse überhaupt realisirbar ist --
zu billigen ist, so erhebt sich die sehr berechtigte Frage: warum bekümmert
sich die Leitung eines Vereins, der, aus politischem Parteiinteresse entstanden,
lediglich politische Parteiinteressen und zwar im Wesentlichen mit Hülfe an¬
gedrohter oder ausgeführter Arbeitseinstellungen verfolgt -- warum bekümmert
sich die Leitung dieses Verbandes um die Bildung und Verwaltung einer Art
von Versicherungsanstalt, welche unter allen Versicherungsformen die größte
Sachkenntniß, Sorgfalt und Erfahrung erfordert -- und dennoch die relativ
geringste Aussicht auf Gedeihen bietet? Diese Frage drängt sich um so nach¬
drücklicher auf, wenn wir zu Gunsten der Kenntnisse des Centralrathes der
Gewerkvereine annehmen, daß diesem die englischen und deutschen Erfahrungen
auf dem Gebiete der Arbeiterinvalidenkassen nicht unbekannt geblieben sind.
Er wird dann wissen, daß die größten Freunde und Sachverständigen der
Jnvalidenkassen der englischen ?raäs Ilnions -- welche doch seit Jahrzehnten
bestehen, und Millionen im Reservefonds haben -- ganz offen gestehen, daß
die Kasse nur durch ein äußerst strenges System von Präelusionen gegen
säumige Mitglieder und andere Kunstgriffe überhaupt ihren dringlichsten Ver¬
pflichtungen genügen könne. Ebenso bekannt wird dem Centralrath sein,
daß die von ihm heiß, doch stets vergeblich, umworbener Knappschaftskassen
der Bergwerkarbeiter, trotz ihrer musterhaften Organisation, ihres großen Alters
und der verhältnißmäßigen Höhe der Beiträge, endlich trotz der regelmäszi-



") Vgl. § 20, und "Statuten der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit"
§ 14. 18. -- "Geschäftsordnung für die Ortsvcreine, Ortsverbände und ihre Beamten betr. die
Verwaltung der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit," Z. 5.

talraten, welche vorbehaltlos an den Centralrath von den Ortsvereinen abge¬
sandt werden, kann der berliner Vorsehung das Recht freier Verfügung nicht
bestritten werden. Diese Rechtsvermuthung besteht jedoch von Haus aus nicht
für die Kassen, welche zu besonderen Zwecken von den steuernden unterhalten
werden, namentlich die Jnvalidenkassen. Und eben deßhalb hat sich das
Hirsch-Duncker'sche Musterstatut beeilt, die Verwaltung und Führung auch
dieser letzteren Kassen in die Hände des berliner Centralraths zu legen.*)

Zu dieser Centralisation des Jnvalidenkassenwesens liegen allerdings auch
höhere als bloße Agitations- und Leitungsgründe vor. Es muß ein Mitglied
des Jnvalidenkassenverbandes aus jedem Gewerk an jedem Ort, wenn er vermöge
der deutschen Gewerbefreiheit und Freizügigkeit Ort oder Gewerk — wechselt, Mit¬
glied derselben Invalidenkasse bleiben können, in welche er bis dahin zahlte.
Es darf seine Anrechte durch Orts- oder Gewerkswechsel nicht verlieren. Aus
diesem Grunde muß eine Invalidenkasse, die sich zum Zweck stellt, die Inva¬
liden der Arbeit über ganz Deutschland zu versorgen, in der That centrali-
sirt sein. Aber wenn diese Centralisation — vorausgesetzt, daß der Gedanke
einer allgemeinen deutschen Arbeiterinvalidenkasse überhaupt realisirbar ist —
zu billigen ist, so erhebt sich die sehr berechtigte Frage: warum bekümmert
sich die Leitung eines Vereins, der, aus politischem Parteiinteresse entstanden,
lediglich politische Parteiinteressen und zwar im Wesentlichen mit Hülfe an¬
gedrohter oder ausgeführter Arbeitseinstellungen verfolgt — warum bekümmert
sich die Leitung dieses Verbandes um die Bildung und Verwaltung einer Art
von Versicherungsanstalt, welche unter allen Versicherungsformen die größte
Sachkenntniß, Sorgfalt und Erfahrung erfordert — und dennoch die relativ
geringste Aussicht auf Gedeihen bietet? Diese Frage drängt sich um so nach¬
drücklicher auf, wenn wir zu Gunsten der Kenntnisse des Centralrathes der
Gewerkvereine annehmen, daß diesem die englischen und deutschen Erfahrungen
auf dem Gebiete der Arbeiterinvalidenkassen nicht unbekannt geblieben sind.
Er wird dann wissen, daß die größten Freunde und Sachverständigen der
Jnvalidenkassen der englischen ?raäs Ilnions — welche doch seit Jahrzehnten
bestehen, und Millionen im Reservefonds haben — ganz offen gestehen, daß
die Kasse nur durch ein äußerst strenges System von Präelusionen gegen
säumige Mitglieder und andere Kunstgriffe überhaupt ihren dringlichsten Ver¬
pflichtungen genügen könne. Ebenso bekannt wird dem Centralrath sein,
daß die von ihm heiß, doch stets vergeblich, umworbener Knappschaftskassen
der Bergwerkarbeiter, trotz ihrer musterhaften Organisation, ihres großen Alters
und der verhältnißmäßigen Höhe der Beiträge, endlich trotz der regelmäszi-



") Vgl. § 20, und „Statuten der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit"
§ 14. 18. — „Geschäftsordnung für die Ortsvcreine, Ortsverbände und ihre Beamten betr. die
Verwaltung der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit," Z. 5.
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[0380] talraten, welche vorbehaltlos an den Centralrath von den Ortsvereinen abge¬ sandt werden, kann der berliner Vorsehung das Recht freier Verfügung nicht bestritten werden. Diese Rechtsvermuthung besteht jedoch von Haus aus nicht für die Kassen, welche zu besonderen Zwecken von den steuernden unterhalten werden, namentlich die Jnvalidenkassen. Und eben deßhalb hat sich das Hirsch-Duncker'sche Musterstatut beeilt, die Verwaltung und Führung auch dieser letzteren Kassen in die Hände des berliner Centralraths zu legen.*) Zu dieser Centralisation des Jnvalidenkassenwesens liegen allerdings auch höhere als bloße Agitations- und Leitungsgründe vor. Es muß ein Mitglied des Jnvalidenkassenverbandes aus jedem Gewerk an jedem Ort, wenn er vermöge der deutschen Gewerbefreiheit und Freizügigkeit Ort oder Gewerk — wechselt, Mit¬ glied derselben Invalidenkasse bleiben können, in welche er bis dahin zahlte. Es darf seine Anrechte durch Orts- oder Gewerkswechsel nicht verlieren. Aus diesem Grunde muß eine Invalidenkasse, die sich zum Zweck stellt, die Inva¬ liden der Arbeit über ganz Deutschland zu versorgen, in der That centrali- sirt sein. Aber wenn diese Centralisation — vorausgesetzt, daß der Gedanke einer allgemeinen deutschen Arbeiterinvalidenkasse überhaupt realisirbar ist — zu billigen ist, so erhebt sich die sehr berechtigte Frage: warum bekümmert sich die Leitung eines Vereins, der, aus politischem Parteiinteresse entstanden, lediglich politische Parteiinteressen und zwar im Wesentlichen mit Hülfe an¬ gedrohter oder ausgeführter Arbeitseinstellungen verfolgt — warum bekümmert sich die Leitung dieses Verbandes um die Bildung und Verwaltung einer Art von Versicherungsanstalt, welche unter allen Versicherungsformen die größte Sachkenntniß, Sorgfalt und Erfahrung erfordert — und dennoch die relativ geringste Aussicht auf Gedeihen bietet? Diese Frage drängt sich um so nach¬ drücklicher auf, wenn wir zu Gunsten der Kenntnisse des Centralrathes der Gewerkvereine annehmen, daß diesem die englischen und deutschen Erfahrungen auf dem Gebiete der Arbeiterinvalidenkassen nicht unbekannt geblieben sind. Er wird dann wissen, daß die größten Freunde und Sachverständigen der Jnvalidenkassen der englischen ?raäs Ilnions — welche doch seit Jahrzehnten bestehen, und Millionen im Reservefonds haben — ganz offen gestehen, daß die Kasse nur durch ein äußerst strenges System von Präelusionen gegen säumige Mitglieder und andere Kunstgriffe überhaupt ihren dringlichsten Ver¬ pflichtungen genügen könne. Ebenso bekannt wird dem Centralrath sein, daß die von ihm heiß, doch stets vergeblich, umworbener Knappschaftskassen der Bergwerkarbeiter, trotz ihrer musterhaften Organisation, ihres großen Alters und der verhältnißmäßigen Höhe der Beiträge, endlich trotz der regelmäszi- ") Vgl. § 20, und „Statuten der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit" § 14. 18. — „Geschäftsordnung für die Ortsvcreine, Ortsverbände und ihre Beamten betr. die Verwaltung der deutschen Verbandskasse für die Invaliden der Arbeit," Z. 5.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/380>, abgerufen am 24.08.2024.