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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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betrachten. Ist es bloß die Langsamkeit unseres Geistes, die mit den Ereig¬
nissen nicht Schritt hält, sondern ihnen nachfolgt, dafür aber unvergängliche
Früchte zeitigt? Einiges ließe sich für eine solche Erklärung anführen, aber
sie bewährt sich nicht. Die Heldenlaufbahn Friedrichs des Großen war von
keiner Poesie ersten Ranges begleitet, aber sie rief eine solche hervor. Friedrichs
Thaten flößten dem deutschen Geist die Zuversicht ein, daß er des Höchsten
fähig sei. Die großen Versuche wurden gemacht und gelangen. Die nächste
Epoche großer Thaten waren die Freiheitskriege. Sie waren durch die tiefe
sittliche Erregung des Volksgeistes, dem die klassische Poesie edle Formen zu¬
bereitet hatte, von unvergeßlichen lyrischen Klängen begleitet. Seitdem hat
das Warten auf eine neue Poesie begonnen, die nicht erscheinen will. Vielleicht
ein sehr müßiges Warten, wenn es auf eine Poesie höchsten Ranges gerichtet ist-
Vor vierzig Jahren schrieb Leopold Ranke: "wenn nicht immer neue Gene¬
rationen großer Poeten auf die alten folgen, so darf man sich nicht so sehr
darüber wundern. Es ist im Grunde gesagt, was man zu sagen hatte, und
der wahre Geist verschmäht es, auf befahrenen, bequemen Wegen einherzu¬
schreiten." Doch giebt es zweierlei Arten der künstlerischen Production; die
eine ist und soll sein des Lebens beständige Begleiterin, während die andere,
die nur in seltenen schöpferischen Epochen, in den Anfang§periodcn großer
Entwicklungen auftritt, den Völkern die ewigen Typen ihres eigenthümlichen
Genius aufstellt, in einer Freiheit der Erscheinung, die sich, unbeengt von den
Gesetzen der Prosa, gern in die ferne Vergangenheit oder auf den Boden des
Mythus begiebt. Daß wir die zweite Art der Poesie sich nicht beständig er¬
neuen sehen, folgt aus einem natürlichen Gesetz, und die wiederholten Wünsche
und Versuche auf einer solchen Bahn sind nur ein Zeichen von Unklarheit.
Aber wir würden diese Wünsche und diese Versuche nicht haben, wenn wir
die erstgenannte Art der künstlerischen Production hätten: die beständige
Gegenüberstellung des sich erneuerten Lebensinhaltes, nicht unter dem Gesichts¬
punkt der höchsten Menschheitsprobleme, sondern unter dem Gesichtspunkt
einer mehr oder minder tief vermittelten, aber in ihrem Besitz sicheren National¬
bildung. Warum haben wir diese nicht?

Diese Antwort hängt von der Frage ab: wie haben die Epochen unserer
großen Thaten auf das Nationalleben überhaupt gewirkt?

Die Thaten Friedrichs, eines Fürsten, der mit einer geringen Macht die
größten Wirkungen hervorbrachte, konnten den Nationalgeist wohl tief ent¬
flammen, aber nicht ihm eine feste Lebensform geben. Konnten sie dies nicht
wenigstens in Friedrichs unmittelbarem Machtbereich. Der kleine Staat war
durch die beispiellosen Anstrengungen und Drangsale verarmt und verwüstet.
Langsam heilten die Wunden. Zehn Jahre nachdem der Held seine Augen
geschlossen, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des siebenjährigen Krieges


betrachten. Ist es bloß die Langsamkeit unseres Geistes, die mit den Ereig¬
nissen nicht Schritt hält, sondern ihnen nachfolgt, dafür aber unvergängliche
Früchte zeitigt? Einiges ließe sich für eine solche Erklärung anführen, aber
sie bewährt sich nicht. Die Heldenlaufbahn Friedrichs des Großen war von
keiner Poesie ersten Ranges begleitet, aber sie rief eine solche hervor. Friedrichs
Thaten flößten dem deutschen Geist die Zuversicht ein, daß er des Höchsten
fähig sei. Die großen Versuche wurden gemacht und gelangen. Die nächste
Epoche großer Thaten waren die Freiheitskriege. Sie waren durch die tiefe
sittliche Erregung des Volksgeistes, dem die klassische Poesie edle Formen zu¬
bereitet hatte, von unvergeßlichen lyrischen Klängen begleitet. Seitdem hat
das Warten auf eine neue Poesie begonnen, die nicht erscheinen will. Vielleicht
ein sehr müßiges Warten, wenn es auf eine Poesie höchsten Ranges gerichtet ist-
Vor vierzig Jahren schrieb Leopold Ranke: „wenn nicht immer neue Gene¬
rationen großer Poeten auf die alten folgen, so darf man sich nicht so sehr
darüber wundern. Es ist im Grunde gesagt, was man zu sagen hatte, und
der wahre Geist verschmäht es, auf befahrenen, bequemen Wegen einherzu¬
schreiten." Doch giebt es zweierlei Arten der künstlerischen Production; die
eine ist und soll sein des Lebens beständige Begleiterin, während die andere,
die nur in seltenen schöpferischen Epochen, in den Anfang§periodcn großer
Entwicklungen auftritt, den Völkern die ewigen Typen ihres eigenthümlichen
Genius aufstellt, in einer Freiheit der Erscheinung, die sich, unbeengt von den
Gesetzen der Prosa, gern in die ferne Vergangenheit oder auf den Boden des
Mythus begiebt. Daß wir die zweite Art der Poesie sich nicht beständig er¬
neuen sehen, folgt aus einem natürlichen Gesetz, und die wiederholten Wünsche
und Versuche auf einer solchen Bahn sind nur ein Zeichen von Unklarheit.
Aber wir würden diese Wünsche und diese Versuche nicht haben, wenn wir
die erstgenannte Art der künstlerischen Production hätten: die beständige
Gegenüberstellung des sich erneuerten Lebensinhaltes, nicht unter dem Gesichts¬
punkt der höchsten Menschheitsprobleme, sondern unter dem Gesichtspunkt
einer mehr oder minder tief vermittelten, aber in ihrem Besitz sicheren National¬
bildung. Warum haben wir diese nicht?

Diese Antwort hängt von der Frage ab: wie haben die Epochen unserer
großen Thaten auf das Nationalleben überhaupt gewirkt?

Die Thaten Friedrichs, eines Fürsten, der mit einer geringen Macht die
größten Wirkungen hervorbrachte, konnten den Nationalgeist wohl tief ent¬
flammen, aber nicht ihm eine feste Lebensform geben. Konnten sie dies nicht
wenigstens in Friedrichs unmittelbarem Machtbereich. Der kleine Staat war
durch die beispiellosen Anstrengungen und Drangsale verarmt und verwüstet.
Langsam heilten die Wunden. Zehn Jahre nachdem der Held seine Augen
geschlossen, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des siebenjährigen Krieges


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[0038] betrachten. Ist es bloß die Langsamkeit unseres Geistes, die mit den Ereig¬ nissen nicht Schritt hält, sondern ihnen nachfolgt, dafür aber unvergängliche Früchte zeitigt? Einiges ließe sich für eine solche Erklärung anführen, aber sie bewährt sich nicht. Die Heldenlaufbahn Friedrichs des Großen war von keiner Poesie ersten Ranges begleitet, aber sie rief eine solche hervor. Friedrichs Thaten flößten dem deutschen Geist die Zuversicht ein, daß er des Höchsten fähig sei. Die großen Versuche wurden gemacht und gelangen. Die nächste Epoche großer Thaten waren die Freiheitskriege. Sie waren durch die tiefe sittliche Erregung des Volksgeistes, dem die klassische Poesie edle Formen zu¬ bereitet hatte, von unvergeßlichen lyrischen Klängen begleitet. Seitdem hat das Warten auf eine neue Poesie begonnen, die nicht erscheinen will. Vielleicht ein sehr müßiges Warten, wenn es auf eine Poesie höchsten Ranges gerichtet ist- Vor vierzig Jahren schrieb Leopold Ranke: „wenn nicht immer neue Gene¬ rationen großer Poeten auf die alten folgen, so darf man sich nicht so sehr darüber wundern. Es ist im Grunde gesagt, was man zu sagen hatte, und der wahre Geist verschmäht es, auf befahrenen, bequemen Wegen einherzu¬ schreiten." Doch giebt es zweierlei Arten der künstlerischen Production; die eine ist und soll sein des Lebens beständige Begleiterin, während die andere, die nur in seltenen schöpferischen Epochen, in den Anfang§periodcn großer Entwicklungen auftritt, den Völkern die ewigen Typen ihres eigenthümlichen Genius aufstellt, in einer Freiheit der Erscheinung, die sich, unbeengt von den Gesetzen der Prosa, gern in die ferne Vergangenheit oder auf den Boden des Mythus begiebt. Daß wir die zweite Art der Poesie sich nicht beständig er¬ neuen sehen, folgt aus einem natürlichen Gesetz, und die wiederholten Wünsche und Versuche auf einer solchen Bahn sind nur ein Zeichen von Unklarheit. Aber wir würden diese Wünsche und diese Versuche nicht haben, wenn wir die erstgenannte Art der künstlerischen Production hätten: die beständige Gegenüberstellung des sich erneuerten Lebensinhaltes, nicht unter dem Gesichts¬ punkt der höchsten Menschheitsprobleme, sondern unter dem Gesichtspunkt einer mehr oder minder tief vermittelten, aber in ihrem Besitz sicheren National¬ bildung. Warum haben wir diese nicht? Diese Antwort hängt von der Frage ab: wie haben die Epochen unserer großen Thaten auf das Nationalleben überhaupt gewirkt? Die Thaten Friedrichs, eines Fürsten, der mit einer geringen Macht die größten Wirkungen hervorbrachte, konnten den Nationalgeist wohl tief ent¬ flammen, aber nicht ihm eine feste Lebensform geben. Konnten sie dies nicht wenigstens in Friedrichs unmittelbarem Machtbereich. Der kleine Staat war durch die beispiellosen Anstrengungen und Drangsale verarmt und verwüstet. Langsam heilten die Wunden. Zehn Jahre nachdem der Held seine Augen geschlossen, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des siebenjährigen Krieges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/38>, abgerufen am 22.07.2024.