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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Man sieht, in sehr vielen Punkten widerstreitet diese actenmäßige Darstellung
von der Organisation der englischen Irlttle Uvions dem rosenfarbenen Bilde,
welches die Gründer der deutschen Gewerkvereine und die Professoren des Ka¬
thedersocialismus von denselben zu entwerfen gewohnt sind. Diese Organisation
ist keine centralistische; sie umfaßt nur eine verschwindende Minorität des
englischen Arbeiterstandes; ihre bewegenden Kräfte sind Eigennutz, Ehrgeiz
und verletztss Selbstgefühl; die Vorbereitung von Strikes ist durchaus ihr
Hauptzweck, ihre Jnvalidenkassen sind -- wie wir unten bei den deutschen Gewerk¬
vereinen noch eingehender zeigen werden -- nur Aushängeschild und Lockmittel.
Eine allgemeine Herabdrückung der Preise, welche namentlich Herr Brentano
höchst zuversichtlich als Folge der Strikes bezeichnet, wenn er (Gewerkvereine,
Band II. Seite 239) behauptet, "die Arbeiter seien im Stande, den größern
Theil der durch die Lohnerhöhung bewirkten Preiserhöhungen auf die Reichen
und die Mittelclassen zu überwälzen" läßt sich am wenigsten für England
nachweisen, wo jede versuchte Herabdrückung des ohnehin sehr niedrigen Zins¬
fußes das Kapital sofort zur Auswanderung oder doch zur Abkehr von un¬
mittelbarer Production anreizt. So haben denn die Strikes in England, wie
auch bei uns, nach einiger Zeit immer nur eine allgemeine Preiserhöhung
oder Geldentwerthung und eine mindestens vorübergehende Productionsver-
minderung herbeigeführt, welche die durch den Strike errungene Lohnerhöhung
sehr bald illusorisch gemacht haben. Die Erkenntniß dieser Verhältnisse und
die Besorgniß, welche sie einflößen, haben denn in England auch in der
?i'ÄäL-Hnions-Aete einen so behutsamen Ausdruck gefunden, daß die
Väter der deutschen Gewerkvereine, wie unten gezeigt werden wird, von
ihrem Standpunkt aus wenig Grund haben, dieses englische Gesetz, unter
Absingung des Liedes "Freiheit, die ich meine", als Muster zu empfehlen.
Die englische IrMe-Hvions-Acte und das Urtheil der englischen Parlaments¬
commission und Sachverständigen über die Iriläs Ilmons würde aber jedenfalls
noch weit vorsichtiger und ungünstiger ausgefallen sein, wenn sie die Leistungen
der deutschen statt der englischen Gewerkvereine zu beurtheilen gehabt hätten. --
In Deutschland sind die ersten Gewerkvereine im Jahr 1868 ins Leben ge¬
treten. Nach ihrem Statut und ihrem Verbandsorgan "der Gewerkverein",
ist ihre Organisation die folgende: An dem einzelnen Ort bildet jedes Ge¬
Werk für sich einen Verein (Ortsverein), welcher mit demselben Gewerke
durch ganz Deutschland in Verbindung steht. Alle einzelnen Ortsvereine stehen
durch ihre Vorstände mit dem allgemeinen "Verband der deutschen Ge¬
werkvereine" in so inniger Verbindung, daß die Kassen aller deutschen
Gewerkvereine solidarisch sind, und die einzelnen Gewerke und Ortsvereine
nur nach Köpfen an dem Gesammtvermögen Antheil haben, und umgekehrt
der wahre Eigenthümer der Ortskasse nicht der Ortsverein, sondern der Ver¬
band ist. Die Centralleitung des Verbandes liegt nominell dem "Central-


Man sieht, in sehr vielen Punkten widerstreitet diese actenmäßige Darstellung
von der Organisation der englischen Irlttle Uvions dem rosenfarbenen Bilde,
welches die Gründer der deutschen Gewerkvereine und die Professoren des Ka¬
thedersocialismus von denselben zu entwerfen gewohnt sind. Diese Organisation
ist keine centralistische; sie umfaßt nur eine verschwindende Minorität des
englischen Arbeiterstandes; ihre bewegenden Kräfte sind Eigennutz, Ehrgeiz
und verletztss Selbstgefühl; die Vorbereitung von Strikes ist durchaus ihr
Hauptzweck, ihre Jnvalidenkassen sind — wie wir unten bei den deutschen Gewerk¬
vereinen noch eingehender zeigen werden — nur Aushängeschild und Lockmittel.
Eine allgemeine Herabdrückung der Preise, welche namentlich Herr Brentano
höchst zuversichtlich als Folge der Strikes bezeichnet, wenn er (Gewerkvereine,
Band II. Seite 239) behauptet, „die Arbeiter seien im Stande, den größern
Theil der durch die Lohnerhöhung bewirkten Preiserhöhungen auf die Reichen
und die Mittelclassen zu überwälzen" läßt sich am wenigsten für England
nachweisen, wo jede versuchte Herabdrückung des ohnehin sehr niedrigen Zins¬
fußes das Kapital sofort zur Auswanderung oder doch zur Abkehr von un¬
mittelbarer Production anreizt. So haben denn die Strikes in England, wie
auch bei uns, nach einiger Zeit immer nur eine allgemeine Preiserhöhung
oder Geldentwerthung und eine mindestens vorübergehende Productionsver-
minderung herbeigeführt, welche die durch den Strike errungene Lohnerhöhung
sehr bald illusorisch gemacht haben. Die Erkenntniß dieser Verhältnisse und
die Besorgniß, welche sie einflößen, haben denn in England auch in der
?i'ÄäL-Hnions-Aete einen so behutsamen Ausdruck gefunden, daß die
Väter der deutschen Gewerkvereine, wie unten gezeigt werden wird, von
ihrem Standpunkt aus wenig Grund haben, dieses englische Gesetz, unter
Absingung des Liedes „Freiheit, die ich meine", als Muster zu empfehlen.
Die englische IrMe-Hvions-Acte und das Urtheil der englischen Parlaments¬
commission und Sachverständigen über die Iriläs Ilmons würde aber jedenfalls
noch weit vorsichtiger und ungünstiger ausgefallen sein, wenn sie die Leistungen
der deutschen statt der englischen Gewerkvereine zu beurtheilen gehabt hätten. —
In Deutschland sind die ersten Gewerkvereine im Jahr 1868 ins Leben ge¬
treten. Nach ihrem Statut und ihrem Verbandsorgan „der Gewerkverein",
ist ihre Organisation die folgende: An dem einzelnen Ort bildet jedes Ge¬
Werk für sich einen Verein (Ortsverein), welcher mit demselben Gewerke
durch ganz Deutschland in Verbindung steht. Alle einzelnen Ortsvereine stehen
durch ihre Vorstände mit dem allgemeinen „Verband der deutschen Ge¬
werkvereine" in so inniger Verbindung, daß die Kassen aller deutschen
Gewerkvereine solidarisch sind, und die einzelnen Gewerke und Ortsvereine
nur nach Köpfen an dem Gesammtvermögen Antheil haben, und umgekehrt
der wahre Eigenthümer der Ortskasse nicht der Ortsverein, sondern der Ver¬
band ist. Die Centralleitung des Verbandes liegt nominell dem „Central-


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[0375] Man sieht, in sehr vielen Punkten widerstreitet diese actenmäßige Darstellung von der Organisation der englischen Irlttle Uvions dem rosenfarbenen Bilde, welches die Gründer der deutschen Gewerkvereine und die Professoren des Ka¬ thedersocialismus von denselben zu entwerfen gewohnt sind. Diese Organisation ist keine centralistische; sie umfaßt nur eine verschwindende Minorität des englischen Arbeiterstandes; ihre bewegenden Kräfte sind Eigennutz, Ehrgeiz und verletztss Selbstgefühl; die Vorbereitung von Strikes ist durchaus ihr Hauptzweck, ihre Jnvalidenkassen sind — wie wir unten bei den deutschen Gewerk¬ vereinen noch eingehender zeigen werden — nur Aushängeschild und Lockmittel. Eine allgemeine Herabdrückung der Preise, welche namentlich Herr Brentano höchst zuversichtlich als Folge der Strikes bezeichnet, wenn er (Gewerkvereine, Band II. Seite 239) behauptet, „die Arbeiter seien im Stande, den größern Theil der durch die Lohnerhöhung bewirkten Preiserhöhungen auf die Reichen und die Mittelclassen zu überwälzen" läßt sich am wenigsten für England nachweisen, wo jede versuchte Herabdrückung des ohnehin sehr niedrigen Zins¬ fußes das Kapital sofort zur Auswanderung oder doch zur Abkehr von un¬ mittelbarer Production anreizt. So haben denn die Strikes in England, wie auch bei uns, nach einiger Zeit immer nur eine allgemeine Preiserhöhung oder Geldentwerthung und eine mindestens vorübergehende Productionsver- minderung herbeigeführt, welche die durch den Strike errungene Lohnerhöhung sehr bald illusorisch gemacht haben. Die Erkenntniß dieser Verhältnisse und die Besorgniß, welche sie einflößen, haben denn in England auch in der ?i'ÄäL-Hnions-Aete einen so behutsamen Ausdruck gefunden, daß die Väter der deutschen Gewerkvereine, wie unten gezeigt werden wird, von ihrem Standpunkt aus wenig Grund haben, dieses englische Gesetz, unter Absingung des Liedes „Freiheit, die ich meine", als Muster zu empfehlen. Die englische IrMe-Hvions-Acte und das Urtheil der englischen Parlaments¬ commission und Sachverständigen über die Iriläs Ilmons würde aber jedenfalls noch weit vorsichtiger und ungünstiger ausgefallen sein, wenn sie die Leistungen der deutschen statt der englischen Gewerkvereine zu beurtheilen gehabt hätten. — In Deutschland sind die ersten Gewerkvereine im Jahr 1868 ins Leben ge¬ treten. Nach ihrem Statut und ihrem Verbandsorgan „der Gewerkverein", ist ihre Organisation die folgende: An dem einzelnen Ort bildet jedes Ge¬ Werk für sich einen Verein (Ortsverein), welcher mit demselben Gewerke durch ganz Deutschland in Verbindung steht. Alle einzelnen Ortsvereine stehen durch ihre Vorstände mit dem allgemeinen „Verband der deutschen Ge¬ werkvereine" in so inniger Verbindung, daß die Kassen aller deutschen Gewerkvereine solidarisch sind, und die einzelnen Gewerke und Ortsvereine nur nach Köpfen an dem Gesammtvermögen Antheil haben, und umgekehrt der wahre Eigenthümer der Ortskasse nicht der Ortsverein, sondern der Ver¬ band ist. Die Centralleitung des Verbandes liegt nominell dem „Central-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/375>, abgerufen am 23.07.2024.