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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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für die Instruction der Präsident des ersten Senats, zum Präsidenten für die
Urtheilsfindung der Präsident des zweiten Senats des herzoglichen Gerichts¬
hofs zu nehmen sei. Man hatte also bei jedem Schwurgerichtsfalle das eigen¬
thümliche Schauspiel dreier fungirenden Präsidenten, ohne daß sich daraus
irgend ein Vortheil für die Behandlung der Sache ersehen ließe. --

Mag Verwirrung und Ratlosigkeit in allen Zwigen der Landesverwal¬
tung die Folge der tumultuarischen Umstürzung aller Verhältnisse gewesen
sein; in keinem kann dieß mehr der Fall sein als in der Justiz, die vorzugs¬
weise einen bedächtigen Schritt der Gesetzgebung erheischt. Ein neues, den
Grundanschauungen des bisherigen (chursächsischen, in sudsiäium römischen)
Rechts meist völlig widerstreitendes Civilgesetzbuch, ein fremder, für eine
durchaus verschiedenartige Nationalität bestimmter Strafcodex war ohne alles
Zuratheziehen der Criminalpolitik in das Land hineingepflanzt worden. Den
Richtern waren neue, durchaus heterogene Proeeßgesetze mitten in die alten
Acten hineingetreten, das ungeheure Gebiet des neuen Rechts sollte inner¬
halb weniger Monate in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen, den Rich¬
tern sicher und geläufig sein. Man hatte nicht daran gedacht, eine Ueber¬
gangsperiode zu schaffen. Man hatte sogar vergessen, bei der Einführung
der neuen Gesetzbücher die alten Gesetze aufzuheben und hatte das, kurz und
bündig, erst im October 1811, also länger als 3 Monate nach der einge¬
tretenen Gültigkeit der ganzen französischen Gesetzbücher, mit folgendem Ge¬
setze nachholen müssen, welches den Richter geradezu zum Gesetzgeber erhebt:
"Alle vor der Einführung des neuen Rechts in unserm Herzogthum bestan¬
denen Gesetze haben insofern ihre Gültigkeit verloren, als sie mit den Dis¬
positionen des neuen Rechts oder dem Geiste desselben in Wider¬
spruch stehen."

Das Volk muß die Gesetze kennen, hier waren sie ihm nicht einmal in
die Hände gegeben/) Willst du dein Gesetz kennen lernen, muthete man dem
Volke zu, so kaufe es dir in Frankreich, lerne die französische Sprache und
studire es, oder versuche, ob eine der vielen vorhandenen Uebersetzungen mit
derjenigen juristischen oder sprachlichen Auffassung übereinstimmt, welche deine
-- ach selbst so rathlosen! -- Richter für die richtige halten. Hin und wieder
versuchte es Wohl einer von den aus dem Westfälischen herbeigerufenen Be¬
amten und Procuratorem, das Volk über das neue Gesetz in dieser und jener
Beziehung zu unterrichten, auch der Staatsrath machte dann und wann auf
den Unterschied des neuen und des alten Rechts in einem einzelnen Punkte
aufmerksam -- das blieben aber angesichts der riesigen Aufgabe die winzigsten
Bruchstücke. So war z. B. mit dem eoäs Mpolvou die Gütergemeinschaft



') Man hatte die französischen Gesetze weder in der Ursprache noch in einer Ueberhebung
dem Lande publicirt!

für die Instruction der Präsident des ersten Senats, zum Präsidenten für die
Urtheilsfindung der Präsident des zweiten Senats des herzoglichen Gerichts¬
hofs zu nehmen sei. Man hatte also bei jedem Schwurgerichtsfalle das eigen¬
thümliche Schauspiel dreier fungirenden Präsidenten, ohne daß sich daraus
irgend ein Vortheil für die Behandlung der Sache ersehen ließe. —

Mag Verwirrung und Ratlosigkeit in allen Zwigen der Landesverwal¬
tung die Folge der tumultuarischen Umstürzung aller Verhältnisse gewesen
sein; in keinem kann dieß mehr der Fall sein als in der Justiz, die vorzugs¬
weise einen bedächtigen Schritt der Gesetzgebung erheischt. Ein neues, den
Grundanschauungen des bisherigen (chursächsischen, in sudsiäium römischen)
Rechts meist völlig widerstreitendes Civilgesetzbuch, ein fremder, für eine
durchaus verschiedenartige Nationalität bestimmter Strafcodex war ohne alles
Zuratheziehen der Criminalpolitik in das Land hineingepflanzt worden. Den
Richtern waren neue, durchaus heterogene Proeeßgesetze mitten in die alten
Acten hineingetreten, das ungeheure Gebiet des neuen Rechts sollte inner¬
halb weniger Monate in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen, den Rich¬
tern sicher und geläufig sein. Man hatte nicht daran gedacht, eine Ueber¬
gangsperiode zu schaffen. Man hatte sogar vergessen, bei der Einführung
der neuen Gesetzbücher die alten Gesetze aufzuheben und hatte das, kurz und
bündig, erst im October 1811, also länger als 3 Monate nach der einge¬
tretenen Gültigkeit der ganzen französischen Gesetzbücher, mit folgendem Ge¬
setze nachholen müssen, welches den Richter geradezu zum Gesetzgeber erhebt:
„Alle vor der Einführung des neuen Rechts in unserm Herzogthum bestan¬
denen Gesetze haben insofern ihre Gültigkeit verloren, als sie mit den Dis¬
positionen des neuen Rechts oder dem Geiste desselben in Wider¬
spruch stehen."

Das Volk muß die Gesetze kennen, hier waren sie ihm nicht einmal in
die Hände gegeben/) Willst du dein Gesetz kennen lernen, muthete man dem
Volke zu, so kaufe es dir in Frankreich, lerne die französische Sprache und
studire es, oder versuche, ob eine der vielen vorhandenen Uebersetzungen mit
derjenigen juristischen oder sprachlichen Auffassung übereinstimmt, welche deine
— ach selbst so rathlosen! — Richter für die richtige halten. Hin und wieder
versuchte es Wohl einer von den aus dem Westfälischen herbeigerufenen Be¬
amten und Procuratorem, das Volk über das neue Gesetz in dieser und jener
Beziehung zu unterrichten, auch der Staatsrath machte dann und wann auf
den Unterschied des neuen und des alten Rechts in einem einzelnen Punkte
aufmerksam — das blieben aber angesichts der riesigen Aufgabe die winzigsten
Bruchstücke. So war z. B. mit dem eoäs Mpolvou die Gütergemeinschaft



') Man hatte die französischen Gesetze weder in der Ursprache noch in einer Ueberhebung
dem Lande publicirt!
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[0354] für die Instruction der Präsident des ersten Senats, zum Präsidenten für die Urtheilsfindung der Präsident des zweiten Senats des herzoglichen Gerichts¬ hofs zu nehmen sei. Man hatte also bei jedem Schwurgerichtsfalle das eigen¬ thümliche Schauspiel dreier fungirenden Präsidenten, ohne daß sich daraus irgend ein Vortheil für die Behandlung der Sache ersehen ließe. — Mag Verwirrung und Ratlosigkeit in allen Zwigen der Landesverwal¬ tung die Folge der tumultuarischen Umstürzung aller Verhältnisse gewesen sein; in keinem kann dieß mehr der Fall sein als in der Justiz, die vorzugs¬ weise einen bedächtigen Schritt der Gesetzgebung erheischt. Ein neues, den Grundanschauungen des bisherigen (chursächsischen, in sudsiäium römischen) Rechts meist völlig widerstreitendes Civilgesetzbuch, ein fremder, für eine durchaus verschiedenartige Nationalität bestimmter Strafcodex war ohne alles Zuratheziehen der Criminalpolitik in das Land hineingepflanzt worden. Den Richtern waren neue, durchaus heterogene Proeeßgesetze mitten in die alten Acten hineingetreten, das ungeheure Gebiet des neuen Rechts sollte inner¬ halb weniger Monate in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen, den Rich¬ tern sicher und geläufig sein. Man hatte nicht daran gedacht, eine Ueber¬ gangsperiode zu schaffen. Man hatte sogar vergessen, bei der Einführung der neuen Gesetzbücher die alten Gesetze aufzuheben und hatte das, kurz und bündig, erst im October 1811, also länger als 3 Monate nach der einge¬ tretenen Gültigkeit der ganzen französischen Gesetzbücher, mit folgendem Ge¬ setze nachholen müssen, welches den Richter geradezu zum Gesetzgeber erhebt: „Alle vor der Einführung des neuen Rechts in unserm Herzogthum bestan¬ denen Gesetze haben insofern ihre Gültigkeit verloren, als sie mit den Dis¬ positionen des neuen Rechts oder dem Geiste desselben in Wider¬ spruch stehen." Das Volk muß die Gesetze kennen, hier waren sie ihm nicht einmal in die Hände gegeben/) Willst du dein Gesetz kennen lernen, muthete man dem Volke zu, so kaufe es dir in Frankreich, lerne die französische Sprache und studire es, oder versuche, ob eine der vielen vorhandenen Uebersetzungen mit derjenigen juristischen oder sprachlichen Auffassung übereinstimmt, welche deine — ach selbst so rathlosen! — Richter für die richtige halten. Hin und wieder versuchte es Wohl einer von den aus dem Westfälischen herbeigerufenen Be¬ amten und Procuratorem, das Volk über das neue Gesetz in dieser und jener Beziehung zu unterrichten, auch der Staatsrath machte dann und wann auf den Unterschied des neuen und des alten Rechts in einem einzelnen Punkte aufmerksam — das blieben aber angesichts der riesigen Aufgabe die winzigsten Bruchstücke. So war z. B. mit dem eoäs Mpolvou die Gütergemeinschaft ') Man hatte die französischen Gesetze weder in der Ursprache noch in einer Ueberhebung dem Lande publicirt!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/354>, abgerufen am 24.08.2024.