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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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eine Erweiterung der Selbständigkeit dieser Städte nach oben hin durch Be¬
schränkung des staatlichen Oberaufsichtsrechts, endlich auf Erledigung des
in Folge der deutschen Gewerbe-. Freizügigkeits- und Unterstützungswohn¬
sitzgesetze hervortretenden Bedürfnisses einer neuen Regelung des Verhält¬
nisses der sogenannten Ansiedler- zur eigentlichen Bürgergemeinde, mit andern
Worten der Erwerbung und Ausübung des Bürger- und Stimmrechts in der
Gemeinde. Alles dieses war in ziemlich liberalem Sinne geordnet.

Weitergreifend schon war die Aenderung in den Verfassungs- und Ver¬
waltungseinrichtungen der "mittleren und kleineren Städte", die durch eine be¬
sondere Städteordnung für diese angebahnt ward. Für sie war eine der
West- und süddeutschen Gemeindeordnung sich annähernde einfachere Bildung
der Verwaltungs- und Controleorgane (ein Stadt- oder Gemeinderath mit
Bürgermeister) in Aussicht genommen.

Die allerbedeutendste Reform aber, eine wahre Radicalreform, sollte auf dem
stachen Lande vor sich gehen. Die Landgemeinden, durch die Land-Gemeinde>Ord-
nung von 1838 zwar auch schon in manchen Punkten zu leidlicher Selbstverwal¬
tung herangezogen, aber doch noch immer der obrigkeitlichen Gewalt der tgi.
Gerichtsämter unterstellt und ohne eigentlich selbständige ortspolizeiliche Befug¬
nisse, sollten jetzt von jener emancipirt und in den Besitz dieser eingesetzt werden.

Die ihnen zugedachte neue Freiheit und Mündigkeit schien einen Theil
der sächsischen Landgemeinden anfangs fast mehr zu erschrecken als zu er¬
freuen. Diese Abneigung gegen die neue Gesetzgebung ward genährt durch
Solche, die dabei an Gewalt, Einfluß und Ansehen einzubüßen oder die auf
sonstige Weise dadurch benachtheiligt zu werden fürchteten.

Dadurch entstand eine halb natürliche, halb künstliche Agitation gegen
den Entwurf der neuen Landgemeindeordnung. Petitionen dagegen wurden
durchs Land verbreitet, Versammlungen wurden veranstaltet, in denen man
die ländliche Bevölkerung bearbeitete und zur Unterzeichnung jener Petitionen
veranlaßte. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß namentlich zwei hochadlige
Herren an der Spitze dieser Bewegung standen, von denen der Eine auch in
der I. Kammer die Opposition wider die Organisationsgesetze leitete. Indeß
stegte doch allmälig der gesunde Sinn der Landleute, und als zumal einige
einflußreiche Abgeordnete vom Lande in der II. Kammer sich der Mühe unter¬
zogen, in Gegenversammlungen die Wähler über die eigentliche Tragweite der
neuen Gesetze aufzuklären, machte jene tendenziöse Agitation verdientermaßen
Fiasco.

Ueber den neuen Gemeindeordnungen und in engstem Zusammenhange
damit baute sich dann eine weitre Reihe von Reformen auf. Die amtshaupt-
mannschaftlichen Kreise, in entsprechender Weise verkleinert, boten den bereiten
Rahmen einerseits zu einer ausgedehnten Selbstverwaltung der Bezirksange-


Grcnzbotm 1873. I. 40

eine Erweiterung der Selbständigkeit dieser Städte nach oben hin durch Be¬
schränkung des staatlichen Oberaufsichtsrechts, endlich auf Erledigung des
in Folge der deutschen Gewerbe-. Freizügigkeits- und Unterstützungswohn¬
sitzgesetze hervortretenden Bedürfnisses einer neuen Regelung des Verhält¬
nisses der sogenannten Ansiedler- zur eigentlichen Bürgergemeinde, mit andern
Worten der Erwerbung und Ausübung des Bürger- und Stimmrechts in der
Gemeinde. Alles dieses war in ziemlich liberalem Sinne geordnet.

Weitergreifend schon war die Aenderung in den Verfassungs- und Ver¬
waltungseinrichtungen der „mittleren und kleineren Städte", die durch eine be¬
sondere Städteordnung für diese angebahnt ward. Für sie war eine der
West- und süddeutschen Gemeindeordnung sich annähernde einfachere Bildung
der Verwaltungs- und Controleorgane (ein Stadt- oder Gemeinderath mit
Bürgermeister) in Aussicht genommen.

Die allerbedeutendste Reform aber, eine wahre Radicalreform, sollte auf dem
stachen Lande vor sich gehen. Die Landgemeinden, durch die Land-Gemeinde>Ord-
nung von 1838 zwar auch schon in manchen Punkten zu leidlicher Selbstverwal¬
tung herangezogen, aber doch noch immer der obrigkeitlichen Gewalt der tgi.
Gerichtsämter unterstellt und ohne eigentlich selbständige ortspolizeiliche Befug¬
nisse, sollten jetzt von jener emancipirt und in den Besitz dieser eingesetzt werden.

Die ihnen zugedachte neue Freiheit und Mündigkeit schien einen Theil
der sächsischen Landgemeinden anfangs fast mehr zu erschrecken als zu er¬
freuen. Diese Abneigung gegen die neue Gesetzgebung ward genährt durch
Solche, die dabei an Gewalt, Einfluß und Ansehen einzubüßen oder die auf
sonstige Weise dadurch benachtheiligt zu werden fürchteten.

Dadurch entstand eine halb natürliche, halb künstliche Agitation gegen
den Entwurf der neuen Landgemeindeordnung. Petitionen dagegen wurden
durchs Land verbreitet, Versammlungen wurden veranstaltet, in denen man
die ländliche Bevölkerung bearbeitete und zur Unterzeichnung jener Petitionen
veranlaßte. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß namentlich zwei hochadlige
Herren an der Spitze dieser Bewegung standen, von denen der Eine auch in
der I. Kammer die Opposition wider die Organisationsgesetze leitete. Indeß
stegte doch allmälig der gesunde Sinn der Landleute, und als zumal einige
einflußreiche Abgeordnete vom Lande in der II. Kammer sich der Mühe unter¬
zogen, in Gegenversammlungen die Wähler über die eigentliche Tragweite der
neuen Gesetze aufzuklären, machte jene tendenziöse Agitation verdientermaßen
Fiasco.

Ueber den neuen Gemeindeordnungen und in engstem Zusammenhange
damit baute sich dann eine weitre Reihe von Reformen auf. Die amtshaupt-
mannschaftlichen Kreise, in entsprechender Weise verkleinert, boten den bereiten
Rahmen einerseits zu einer ausgedehnten Selbstverwaltung der Bezirksange-


Grcnzbotm 1873. I. 40
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[0321] eine Erweiterung der Selbständigkeit dieser Städte nach oben hin durch Be¬ schränkung des staatlichen Oberaufsichtsrechts, endlich auf Erledigung des in Folge der deutschen Gewerbe-. Freizügigkeits- und Unterstützungswohn¬ sitzgesetze hervortretenden Bedürfnisses einer neuen Regelung des Verhält¬ nisses der sogenannten Ansiedler- zur eigentlichen Bürgergemeinde, mit andern Worten der Erwerbung und Ausübung des Bürger- und Stimmrechts in der Gemeinde. Alles dieses war in ziemlich liberalem Sinne geordnet. Weitergreifend schon war die Aenderung in den Verfassungs- und Ver¬ waltungseinrichtungen der „mittleren und kleineren Städte", die durch eine be¬ sondere Städteordnung für diese angebahnt ward. Für sie war eine der West- und süddeutschen Gemeindeordnung sich annähernde einfachere Bildung der Verwaltungs- und Controleorgane (ein Stadt- oder Gemeinderath mit Bürgermeister) in Aussicht genommen. Die allerbedeutendste Reform aber, eine wahre Radicalreform, sollte auf dem stachen Lande vor sich gehen. Die Landgemeinden, durch die Land-Gemeinde>Ord- nung von 1838 zwar auch schon in manchen Punkten zu leidlicher Selbstverwal¬ tung herangezogen, aber doch noch immer der obrigkeitlichen Gewalt der tgi. Gerichtsämter unterstellt und ohne eigentlich selbständige ortspolizeiliche Befug¬ nisse, sollten jetzt von jener emancipirt und in den Besitz dieser eingesetzt werden. Die ihnen zugedachte neue Freiheit und Mündigkeit schien einen Theil der sächsischen Landgemeinden anfangs fast mehr zu erschrecken als zu er¬ freuen. Diese Abneigung gegen die neue Gesetzgebung ward genährt durch Solche, die dabei an Gewalt, Einfluß und Ansehen einzubüßen oder die auf sonstige Weise dadurch benachtheiligt zu werden fürchteten. Dadurch entstand eine halb natürliche, halb künstliche Agitation gegen den Entwurf der neuen Landgemeindeordnung. Petitionen dagegen wurden durchs Land verbreitet, Versammlungen wurden veranstaltet, in denen man die ländliche Bevölkerung bearbeitete und zur Unterzeichnung jener Petitionen veranlaßte. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß namentlich zwei hochadlige Herren an der Spitze dieser Bewegung standen, von denen der Eine auch in der I. Kammer die Opposition wider die Organisationsgesetze leitete. Indeß stegte doch allmälig der gesunde Sinn der Landleute, und als zumal einige einflußreiche Abgeordnete vom Lande in der II. Kammer sich der Mühe unter¬ zogen, in Gegenversammlungen die Wähler über die eigentliche Tragweite der neuen Gesetze aufzuklären, machte jene tendenziöse Agitation verdientermaßen Fiasco. Ueber den neuen Gemeindeordnungen und in engstem Zusammenhange damit baute sich dann eine weitre Reihe von Reformen auf. Die amtshaupt- mannschaftlichen Kreise, in entsprechender Weise verkleinert, boten den bereiten Rahmen einerseits zu einer ausgedehnten Selbstverwaltung der Bezirksange- Grcnzbotm 1873. I. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/321>, abgerufen am 24.08.2024.