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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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biet: die Recitation dramatischer Dichtungen. Nicht die zunehmende Kurz¬
sichtigkeit, wie man wohl geglaubt hat, gab ihm den Wunsch, sich von der
Bühne abzuwenden, obwohl durch sie seine Bühnenwirksamkeit sehr erschwert
wurde, sondern der Drang nach Ausgestaltung seines Kunstideals.

Da er einmal den richtigen Weg gefunden hatte, förderte ihn die Uni¬
versalität seiner Bildung und Kunstentwickelung überraschend schnell. Von
Shakespeare beginnend, ging er zu Goethe's Iphigenie über; von ihr zu den
antiken Dramen. Beim Studium des Sophokles gewannen manche Winke
seines einstigen Lehrers Stallbaum, die bis dahin unbeachtet in ihm ge¬
schlummert hatten, tiefe Bedeutung; die Gesangsbildung wirkte befruchtend
zurück auf die Rhetorik, er erfand, wir dürfen hier wohl diesen Ausdruck
brauchen, den Vortrag der Chorgesänge und erwarb bei dem tiefernsten Stu¬
dium jedesmal eines ganzen Dichtungswerkes zugleich den Wortlaut desselben
zu so unauslöschlichem Gedächtnißbesitze, daß er niemals wieder, auch nach
mehrmonatlicher Unterbrechung seiner Recitationen, einer RePetition be¬
durft hat.

Es ist wiederholt schon ausgesprochen worden, es läge etwas Dämonisches
in der Natur Türschmann's, und wohl mit Recht. Im intuitiver Erfassen
alles Dessen, was der Empirie entrückt ist: das Sprechen des Geistes im
Hamlet; die Stimmen der Hexen im Macbeth; das Gekreisch des Embrio im
Faust, und nicht minder in der schöpferischen Gestaltungskraft, mit welcher er
den Gedankeninhalt eines ganzen Dramas mit Fleisch und Blut umkleidet,
offenbarte sich eine Fähigkett, die sich mit den landläufigen Bezeichnungen nicht
charakterisiren läßt. Auch Ludwig Devrient's Weise schildern die Zeitgenossen
als eine dämonische und in der That gleicht Türschmann jenem wohl in der
überaus seltenen Fähigkeit, bei der Vertiefung in den Geist der Dichtung fast
bis zur dichterischen Production sich zu steigern. Allein wenn in der Charakter¬
anlage die Phantasie vielleicht überwiegend war, die Durchbildung zu der
griechisch-Goethe'schen Weltanschauung, die dem Künstler, jetzt eigen, ist sein
Werk. Die sonnigen Gestalten eines Pylades, Malcolm, Siegfried (in Gek--
bel's Brunhild) bezeichnen den Höhepunkt der Türschmann'schen Charakteristik.
Ein Künstler, der mit solcher Freudigkeit und Wärme jene gottbegnadeter
Menschen zur Darstellung bringen kann, muß selbst im Herzen ewige Jugend
tragen und die Harmonie gefunden haben, die der schönste Lohn reinen Strebens
ist. Und hier ziemt es dankbar der Hülfe zu gedenken, die dem Künstler in
der Liebe seines Weibes geworden. Unbeirrt von dem bisweilen verzweiflungs¬
vollen Kampfe mit den materiellen Mächten des Lebens, der auch unserem
Künstler nicht erspart blieb, verstand sie, die fast noch ein Kind in die Ehe
getreten war, aber mit überraschender Schnelligkeit an dem Gatten sich ge¬
bildet hatte, nicht nur diesen in treuer, geistiger Mitarbeiterschaft zu unter-


biet: die Recitation dramatischer Dichtungen. Nicht die zunehmende Kurz¬
sichtigkeit, wie man wohl geglaubt hat, gab ihm den Wunsch, sich von der
Bühne abzuwenden, obwohl durch sie seine Bühnenwirksamkeit sehr erschwert
wurde, sondern der Drang nach Ausgestaltung seines Kunstideals.

Da er einmal den richtigen Weg gefunden hatte, förderte ihn die Uni¬
versalität seiner Bildung und Kunstentwickelung überraschend schnell. Von
Shakespeare beginnend, ging er zu Goethe's Iphigenie über; von ihr zu den
antiken Dramen. Beim Studium des Sophokles gewannen manche Winke
seines einstigen Lehrers Stallbaum, die bis dahin unbeachtet in ihm ge¬
schlummert hatten, tiefe Bedeutung; die Gesangsbildung wirkte befruchtend
zurück auf die Rhetorik, er erfand, wir dürfen hier wohl diesen Ausdruck
brauchen, den Vortrag der Chorgesänge und erwarb bei dem tiefernsten Stu¬
dium jedesmal eines ganzen Dichtungswerkes zugleich den Wortlaut desselben
zu so unauslöschlichem Gedächtnißbesitze, daß er niemals wieder, auch nach
mehrmonatlicher Unterbrechung seiner Recitationen, einer RePetition be¬
durft hat.

Es ist wiederholt schon ausgesprochen worden, es läge etwas Dämonisches
in der Natur Türschmann's, und wohl mit Recht. Im intuitiver Erfassen
alles Dessen, was der Empirie entrückt ist: das Sprechen des Geistes im
Hamlet; die Stimmen der Hexen im Macbeth; das Gekreisch des Embrio im
Faust, und nicht minder in der schöpferischen Gestaltungskraft, mit welcher er
den Gedankeninhalt eines ganzen Dramas mit Fleisch und Blut umkleidet,
offenbarte sich eine Fähigkett, die sich mit den landläufigen Bezeichnungen nicht
charakterisiren läßt. Auch Ludwig Devrient's Weise schildern die Zeitgenossen
als eine dämonische und in der That gleicht Türschmann jenem wohl in der
überaus seltenen Fähigkeit, bei der Vertiefung in den Geist der Dichtung fast
bis zur dichterischen Production sich zu steigern. Allein wenn in der Charakter¬
anlage die Phantasie vielleicht überwiegend war, die Durchbildung zu der
griechisch-Goethe'schen Weltanschauung, die dem Künstler, jetzt eigen, ist sein
Werk. Die sonnigen Gestalten eines Pylades, Malcolm, Siegfried (in Gek--
bel's Brunhild) bezeichnen den Höhepunkt der Türschmann'schen Charakteristik.
Ein Künstler, der mit solcher Freudigkeit und Wärme jene gottbegnadeter
Menschen zur Darstellung bringen kann, muß selbst im Herzen ewige Jugend
tragen und die Harmonie gefunden haben, die der schönste Lohn reinen Strebens
ist. Und hier ziemt es dankbar der Hülfe zu gedenken, die dem Künstler in
der Liebe seines Weibes geworden. Unbeirrt von dem bisweilen verzweiflungs¬
vollen Kampfe mit den materiellen Mächten des Lebens, der auch unserem
Künstler nicht erspart blieb, verstand sie, die fast noch ein Kind in die Ehe
getreten war, aber mit überraschender Schnelligkeit an dem Gatten sich ge¬
bildet hatte, nicht nur diesen in treuer, geistiger Mitarbeiterschaft zu unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/29>, abgerufen am 24.08.2024.