Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

greifenden politischen Thatsachen, bei deren Beurtheilung sich doch nie eine
irgend erhebliche Differenz zwischen den Freunden herausstellte. Die poetischen
Tagebuchblätter aus diesen Jahren würden dafür ein überraschendes, ja in
seiner Art einziges Zeugniß von unanfechtbarer Authenticität ablegen, wenn
es eines solchen für die bedürfte, denen es vergönnt war, jemals an den
von wahrhafter Genialität strömenden und ebendeshalb in so völliger Un¬
mittelbarkeit des Ausdrucks der persönlichen Eigenart sich austönenden Unter¬
haltungen und Gesprächen der beiden Männer oder Greise, deren gleichen
unser Vaterland nicht viele besaß, theilzunehmen. In den Tagebuchblättern
begegnet man nicht selten der beigefügten Notiz "nach einem Gespräch mit
Stockmar auf dem Goldberge" oder "nachdem mich Stockmar heute besucht
hatte" u. dergl. So wenig aber Stockmar daran dachte, die goldenen Samen¬
körner seiner staatsmännischen Einsicht und seines glühenden Patriotismus
anderswo als in der leichten Erde des mündlichen Verkehrs zu verstreuen,
falls ihn nicht eine eigentliche Nöthigung der Pflicht da'zu trieb, ebenso wenig
kam es dem Dichter damals in den Sinn, jene ebenso momentanen Erzeug¬
nisse seiner Muse irgend einem andern Auge als dem seinigen vorzulegen.
Erst nach Stockmar'" Tode, im Winter 1863, brach er mit den zwölf "Kampf¬
liedern für Schleswig-Holstein" die von ihm gleichsam als selbstverständ¬
liches Gesetz angenommene Gewohnheit, aber auch nur dieß eine Mal und
nicht wieder, obgleich die Ader seiner politischen Poesie gerade in den folgen¬
den zwei Jahren bis zu seinem Tode im Beginne des großen Jahres 1866
noch reichlicher als früher strömte.

Daß beiden Freunden es nicht vergönnt war, das heiß ersehnte Ziel
ihrer Hoffnungen und Bestrebungen in den Hauptumrissen einer lebensfähigen
und Lebensdauer verheißenden Gestalt verwirklicht zu sehen, war eine eigen¬
thümlich harte Fügung des Geschickes, wenigstens wie die Ueberlebenden es
empfinden müssen. Beide sind in besonders trüben Tagen dahin gegangen:
Stockmar in dem Sommer 1863, wo der Conflict in Preußen seine giftigste
Zuspitzung erlangt hatte, wo der polnische Aufstand noch immer gährte, wo
Oesterreich durch die Vorbereitungen zu dem Frankfurter Fürstentag -- der sich
freilich als Posse gestaltete -- endlich den wirksamen Hebel Preußen ganz zu
Boden zu werfen, gefunden zu haben schien. Rückert dagegen in den dumpfen
und trüben Tagen des Januars 66, wo die Vorbereitungen zu der entschei¬
denden Katastrophe der Befreiung Deutschlands von dem Alpdrucke der Wiener
Politik, zwar mit einziger Genialität und ebenso einziger Charakterkraft schon
ziemlich weit gediehen waren, aber jedes uneingeweihte Auge, selbst das
schärfste und reinste, nur die nach außen hin gewandte abstoßende und ver¬
letzende Schale sehen konnte, deren herbe Eindrücke auch die letzten Stunden
des großen Dichters und Patrioten verstört haben.


Grenzboten 1873. I. 32

greifenden politischen Thatsachen, bei deren Beurtheilung sich doch nie eine
irgend erhebliche Differenz zwischen den Freunden herausstellte. Die poetischen
Tagebuchblätter aus diesen Jahren würden dafür ein überraschendes, ja in
seiner Art einziges Zeugniß von unanfechtbarer Authenticität ablegen, wenn
es eines solchen für die bedürfte, denen es vergönnt war, jemals an den
von wahrhafter Genialität strömenden und ebendeshalb in so völliger Un¬
mittelbarkeit des Ausdrucks der persönlichen Eigenart sich austönenden Unter¬
haltungen und Gesprächen der beiden Männer oder Greise, deren gleichen
unser Vaterland nicht viele besaß, theilzunehmen. In den Tagebuchblättern
begegnet man nicht selten der beigefügten Notiz „nach einem Gespräch mit
Stockmar auf dem Goldberge" oder „nachdem mich Stockmar heute besucht
hatte" u. dergl. So wenig aber Stockmar daran dachte, die goldenen Samen¬
körner seiner staatsmännischen Einsicht und seines glühenden Patriotismus
anderswo als in der leichten Erde des mündlichen Verkehrs zu verstreuen,
falls ihn nicht eine eigentliche Nöthigung der Pflicht da'zu trieb, ebenso wenig
kam es dem Dichter damals in den Sinn, jene ebenso momentanen Erzeug¬
nisse seiner Muse irgend einem andern Auge als dem seinigen vorzulegen.
Erst nach Stockmar'« Tode, im Winter 1863, brach er mit den zwölf „Kampf¬
liedern für Schleswig-Holstein" die von ihm gleichsam als selbstverständ¬
liches Gesetz angenommene Gewohnheit, aber auch nur dieß eine Mal und
nicht wieder, obgleich die Ader seiner politischen Poesie gerade in den folgen¬
den zwei Jahren bis zu seinem Tode im Beginne des großen Jahres 1866
noch reichlicher als früher strömte.

Daß beiden Freunden es nicht vergönnt war, das heiß ersehnte Ziel
ihrer Hoffnungen und Bestrebungen in den Hauptumrissen einer lebensfähigen
und Lebensdauer verheißenden Gestalt verwirklicht zu sehen, war eine eigen¬
thümlich harte Fügung des Geschickes, wenigstens wie die Ueberlebenden es
empfinden müssen. Beide sind in besonders trüben Tagen dahin gegangen:
Stockmar in dem Sommer 1863, wo der Conflict in Preußen seine giftigste
Zuspitzung erlangt hatte, wo der polnische Aufstand noch immer gährte, wo
Oesterreich durch die Vorbereitungen zu dem Frankfurter Fürstentag — der sich
freilich als Posse gestaltete — endlich den wirksamen Hebel Preußen ganz zu
Boden zu werfen, gefunden zu haben schien. Rückert dagegen in den dumpfen
und trüben Tagen des Januars 66, wo die Vorbereitungen zu der entschei¬
denden Katastrophe der Befreiung Deutschlands von dem Alpdrucke der Wiener
Politik, zwar mit einziger Genialität und ebenso einziger Charakterkraft schon
ziemlich weit gediehen waren, aber jedes uneingeweihte Auge, selbst das
schärfste und reinste, nur die nach außen hin gewandte abstoßende und ver¬
letzende Schale sehen konnte, deren herbe Eindrücke auch die letzten Stunden
des großen Dichters und Patrioten verstört haben.


Grenzboten 1873. I. 32
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129249"/>
          <p xml:id="ID_810" prev="#ID_809"> greifenden politischen Thatsachen, bei deren Beurtheilung sich doch nie eine<lb/>
irgend erhebliche Differenz zwischen den Freunden herausstellte. Die poetischen<lb/>
Tagebuchblätter aus diesen Jahren würden dafür ein überraschendes, ja in<lb/>
seiner Art einziges Zeugniß von unanfechtbarer Authenticität ablegen, wenn<lb/>
es eines solchen für die bedürfte, denen es vergönnt war, jemals an den<lb/>
von wahrhafter Genialität strömenden und ebendeshalb in so völliger Un¬<lb/>
mittelbarkeit des Ausdrucks der persönlichen Eigenart sich austönenden Unter¬<lb/>
haltungen und Gesprächen der beiden Männer oder Greise, deren gleichen<lb/>
unser Vaterland nicht viele besaß, theilzunehmen. In den Tagebuchblättern<lb/>
begegnet man nicht selten der beigefügten Notiz &#x201E;nach einem Gespräch mit<lb/>
Stockmar auf dem Goldberge" oder &#x201E;nachdem mich Stockmar heute besucht<lb/>
hatte" u. dergl. So wenig aber Stockmar daran dachte, die goldenen Samen¬<lb/>
körner seiner staatsmännischen Einsicht und seines glühenden Patriotismus<lb/>
anderswo als in der leichten Erde des mündlichen Verkehrs zu verstreuen,<lb/>
falls ihn nicht eine eigentliche Nöthigung der Pflicht da'zu trieb, ebenso wenig<lb/>
kam es dem Dichter damals in den Sinn, jene ebenso momentanen Erzeug¬<lb/>
nisse seiner Muse irgend einem andern Auge als dem seinigen vorzulegen.<lb/>
Erst nach Stockmar'« Tode, im Winter 1863, brach er mit den zwölf &#x201E;Kampf¬<lb/>
liedern für Schleswig-Holstein" die von ihm gleichsam als selbstverständ¬<lb/>
liches Gesetz angenommene Gewohnheit, aber auch nur dieß eine Mal und<lb/>
nicht wieder, obgleich die Ader seiner politischen Poesie gerade in den folgen¬<lb/>
den zwei Jahren bis zu seinem Tode im Beginne des großen Jahres 1866<lb/>
noch reichlicher als früher strömte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_811"> Daß beiden Freunden es nicht vergönnt war, das heiß ersehnte Ziel<lb/>
ihrer Hoffnungen und Bestrebungen in den Hauptumrissen einer lebensfähigen<lb/>
und Lebensdauer verheißenden Gestalt verwirklicht zu sehen, war eine eigen¬<lb/>
thümlich harte Fügung des Geschickes, wenigstens wie die Ueberlebenden es<lb/>
empfinden müssen. Beide sind in besonders trüben Tagen dahin gegangen:<lb/>
Stockmar in dem Sommer 1863, wo der Conflict in Preußen seine giftigste<lb/>
Zuspitzung erlangt hatte, wo der polnische Aufstand noch immer gährte, wo<lb/>
Oesterreich durch die Vorbereitungen zu dem Frankfurter Fürstentag &#x2014; der sich<lb/>
freilich als Posse gestaltete &#x2014; endlich den wirksamen Hebel Preußen ganz zu<lb/>
Boden zu werfen, gefunden zu haben schien. Rückert dagegen in den dumpfen<lb/>
und trüben Tagen des Januars 66, wo die Vorbereitungen zu der entschei¬<lb/>
denden Katastrophe der Befreiung Deutschlands von dem Alpdrucke der Wiener<lb/>
Politik, zwar mit einziger Genialität und ebenso einziger Charakterkraft schon<lb/>
ziemlich weit gediehen waren, aber jedes uneingeweihte Auge, selbst das<lb/>
schärfste und reinste, nur die nach außen hin gewandte abstoßende und ver¬<lb/>
letzende Schale sehen konnte, deren herbe Eindrücke auch die letzten Stunden<lb/>
des großen Dichters und Patrioten verstört haben.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1873. I. 32</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0257] greifenden politischen Thatsachen, bei deren Beurtheilung sich doch nie eine irgend erhebliche Differenz zwischen den Freunden herausstellte. Die poetischen Tagebuchblätter aus diesen Jahren würden dafür ein überraschendes, ja in seiner Art einziges Zeugniß von unanfechtbarer Authenticität ablegen, wenn es eines solchen für die bedürfte, denen es vergönnt war, jemals an den von wahrhafter Genialität strömenden und ebendeshalb in so völliger Un¬ mittelbarkeit des Ausdrucks der persönlichen Eigenart sich austönenden Unter¬ haltungen und Gesprächen der beiden Männer oder Greise, deren gleichen unser Vaterland nicht viele besaß, theilzunehmen. In den Tagebuchblättern begegnet man nicht selten der beigefügten Notiz „nach einem Gespräch mit Stockmar auf dem Goldberge" oder „nachdem mich Stockmar heute besucht hatte" u. dergl. So wenig aber Stockmar daran dachte, die goldenen Samen¬ körner seiner staatsmännischen Einsicht und seines glühenden Patriotismus anderswo als in der leichten Erde des mündlichen Verkehrs zu verstreuen, falls ihn nicht eine eigentliche Nöthigung der Pflicht da'zu trieb, ebenso wenig kam es dem Dichter damals in den Sinn, jene ebenso momentanen Erzeug¬ nisse seiner Muse irgend einem andern Auge als dem seinigen vorzulegen. Erst nach Stockmar'« Tode, im Winter 1863, brach er mit den zwölf „Kampf¬ liedern für Schleswig-Holstein" die von ihm gleichsam als selbstverständ¬ liches Gesetz angenommene Gewohnheit, aber auch nur dieß eine Mal und nicht wieder, obgleich die Ader seiner politischen Poesie gerade in den folgen¬ den zwei Jahren bis zu seinem Tode im Beginne des großen Jahres 1866 noch reichlicher als früher strömte. Daß beiden Freunden es nicht vergönnt war, das heiß ersehnte Ziel ihrer Hoffnungen und Bestrebungen in den Hauptumrissen einer lebensfähigen und Lebensdauer verheißenden Gestalt verwirklicht zu sehen, war eine eigen¬ thümlich harte Fügung des Geschickes, wenigstens wie die Ueberlebenden es empfinden müssen. Beide sind in besonders trüben Tagen dahin gegangen: Stockmar in dem Sommer 1863, wo der Conflict in Preußen seine giftigste Zuspitzung erlangt hatte, wo der polnische Aufstand noch immer gährte, wo Oesterreich durch die Vorbereitungen zu dem Frankfurter Fürstentag — der sich freilich als Posse gestaltete — endlich den wirksamen Hebel Preußen ganz zu Boden zu werfen, gefunden zu haben schien. Rückert dagegen in den dumpfen und trüben Tagen des Januars 66, wo die Vorbereitungen zu der entschei¬ denden Katastrophe der Befreiung Deutschlands von dem Alpdrucke der Wiener Politik, zwar mit einziger Genialität und ebenso einziger Charakterkraft schon ziemlich weit gediehen waren, aber jedes uneingeweihte Auge, selbst das schärfste und reinste, nur die nach außen hin gewandte abstoßende und ver¬ letzende Schale sehen konnte, deren herbe Eindrücke auch die letzten Stunden des großen Dichters und Patrioten verstört haben. Grenzboten 1873. I. 32

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/257
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/257>, abgerufen am 24.08.2024.