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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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und überhaupt die trockenen Formen des konstitutionellen Schematismus im
modernen Staatsleben keineswegs abstießen, sondern wie er auch bis in seine
letzten Tage als ein eifriger und penibel gewissenhafter Leser z. B. die unend¬
lichen Spalten der stenographischen Berichte unserer großen Zeitungen Wort
für Wort durcharbeitete, wie er sich nicht bloß "auf dem Laufenden" erhielt,
sondern mit dem tiefsten Antheil des Gemüthes so zu sagen in ein persönliches
Verhältniß zu den Dingen und Personen trat, die ihn ergriffen.

Wollte man nur den Maßstab directer practischer Betheiligung am öffent¬
lichen Leben gelten lassen, dann freilich würde Fr. Rückert schlecht bestehen.
Denn dazu fehlte ihm, wie er selbst am besten wußte, alle und jede Be¬
fähigung. Es trat auch niemals eine ernstliche Veranlassung an ihn heran.
Während der idealistischen Periode des "großen Völkerfrühlings", als es sich
um die Aufstellung der Candidaten für die Wahl zum deutschen Parlamente
handelte, nannte wohl hie und da eine Stimme seinen Namen. Es schien,
als wenn auch er nicht in dem vollem Chor der Edelsten und Besten der
Nation, die sich damals in den Mauern der Paulskirche zusammenfanden,
nicht fehlen dürfe, indessen war er selbst weit davon entfernt, irgend einen
entgegenkommenden Schritt zu thun, obgleich sein Herz wohl selten so tief
und freudig bewegt war, wie von jenen, allerdings verfrühten Ahnungen
einer besseren und ehrenhafteren Gestaltung der deutschen Dinge.

Gewiß ist es auch nicht zufällig, daß zwei der bedeutendsten deutschen
Staatsmänner seiner Zeit zu seinen innigsten Freunden, und wenigstens wäh¬
rend der Periode des stillen Auslebens in Neuseß so zu sagen zu seinem
täglichen Umgang gehörten: der erst allmählig in seiner ganzen Bedeutung
gewürdigte Freiherr von Stockmar, und der zu seiner Zeit als Vorkämpfer
der liberalen Ideen sogar im Bundestage -- als Begründer einer constitutio-
nellen Musterverfassung hoch gepriesene und stark gehaßte ehemalige württem¬
bergische Minister von Wangenheim.

Mit dem Ersteren, den man als den intelligentesten und charaktervollsten
Vertreter einerächtcn deutschen Realpolitik bezeichnen kann -- denn lange ehe Dietzel
dieß Schlagwort erfunden hatte, harmonirte der Dichter, wenn auch ohne die
besonderen Ansprüche seines Idealismus aufzugeben, nicht bloß in den Prin¬
zipien, sondern auch fast immer und zu jeder Zeit in dem Detail der Auf¬
fassung der gerade schwebenden Fragen. Da sich der persönliche Verkehr
zwischen beiden, freilich nicht ohne öftere und längere Unterbrechungen wegen
der Kränklichkeit des Einen und die zur Gewohnheit gewordene Abneigung des
Andern, seinen Neuseßer Garten und seinen Goldberg auch nur auf Stunden
zu verlassen, durch so viele Jahre hinzog, so brachte die gerade in dieser Pe¬
riode -- von den letzten vierziger Jahren bis zu Stockmar's Tode 1863
so lebhafte Bewegung der Ereignisse eine Menge der allerwichtigsten und tiefst-


und überhaupt die trockenen Formen des konstitutionellen Schematismus im
modernen Staatsleben keineswegs abstießen, sondern wie er auch bis in seine
letzten Tage als ein eifriger und penibel gewissenhafter Leser z. B. die unend¬
lichen Spalten der stenographischen Berichte unserer großen Zeitungen Wort
für Wort durcharbeitete, wie er sich nicht bloß „auf dem Laufenden" erhielt,
sondern mit dem tiefsten Antheil des Gemüthes so zu sagen in ein persönliches
Verhältniß zu den Dingen und Personen trat, die ihn ergriffen.

Wollte man nur den Maßstab directer practischer Betheiligung am öffent¬
lichen Leben gelten lassen, dann freilich würde Fr. Rückert schlecht bestehen.
Denn dazu fehlte ihm, wie er selbst am besten wußte, alle und jede Be¬
fähigung. Es trat auch niemals eine ernstliche Veranlassung an ihn heran.
Während der idealistischen Periode des „großen Völkerfrühlings", als es sich
um die Aufstellung der Candidaten für die Wahl zum deutschen Parlamente
handelte, nannte wohl hie und da eine Stimme seinen Namen. Es schien,
als wenn auch er nicht in dem vollem Chor der Edelsten und Besten der
Nation, die sich damals in den Mauern der Paulskirche zusammenfanden,
nicht fehlen dürfe, indessen war er selbst weit davon entfernt, irgend einen
entgegenkommenden Schritt zu thun, obgleich sein Herz wohl selten so tief
und freudig bewegt war, wie von jenen, allerdings verfrühten Ahnungen
einer besseren und ehrenhafteren Gestaltung der deutschen Dinge.

Gewiß ist es auch nicht zufällig, daß zwei der bedeutendsten deutschen
Staatsmänner seiner Zeit zu seinen innigsten Freunden, und wenigstens wäh¬
rend der Periode des stillen Auslebens in Neuseß so zu sagen zu seinem
täglichen Umgang gehörten: der erst allmählig in seiner ganzen Bedeutung
gewürdigte Freiherr von Stockmar, und der zu seiner Zeit als Vorkämpfer
der liberalen Ideen sogar im Bundestage — als Begründer einer constitutio-
nellen Musterverfassung hoch gepriesene und stark gehaßte ehemalige württem¬
bergische Minister von Wangenheim.

Mit dem Ersteren, den man als den intelligentesten und charaktervollsten
Vertreter einerächtcn deutschen Realpolitik bezeichnen kann — denn lange ehe Dietzel
dieß Schlagwort erfunden hatte, harmonirte der Dichter, wenn auch ohne die
besonderen Ansprüche seines Idealismus aufzugeben, nicht bloß in den Prin¬
zipien, sondern auch fast immer und zu jeder Zeit in dem Detail der Auf¬
fassung der gerade schwebenden Fragen. Da sich der persönliche Verkehr
zwischen beiden, freilich nicht ohne öftere und längere Unterbrechungen wegen
der Kränklichkeit des Einen und die zur Gewohnheit gewordene Abneigung des
Andern, seinen Neuseßer Garten und seinen Goldberg auch nur auf Stunden
zu verlassen, durch so viele Jahre hinzog, so brachte die gerade in dieser Pe¬
riode — von den letzten vierziger Jahren bis zu Stockmar's Tode 1863
so lebhafte Bewegung der Ereignisse eine Menge der allerwichtigsten und tiefst-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/256>, abgerufen am 24.08.2024.