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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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immer dieselbe. Schubart's Mittheilungen über die politischen Discussionen,
die er mit seinem Freunde besonders in und nach dem entscheidenden Jahre
1848 gepflogen, bestätigen nur, was Alle, die Fr. Rückerr näher standen, schon
lange wußten. Sie zeigen die Seele des Dichters bis in ihre tiefsten Tiefen
von den großen Ideen der Zeit erfaßt, so daß in den eigentlichen Wende¬
punkten der Tagesereignisse beinahe kein Raum für ein anderes Interesse blieb,
außer für die Allmacht der Poesie, die ja den Politiker sofort zum Dichter
gestaltete. Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, denn noch immer be¬
gegnet man den seltsamsten Ansichten und Vorurtheilen über die spätere poli¬
tische Stimmung und Haltung des Dichters der geharnischten Sonette, Der
"orientalische Quietismus", dessen man die ethisch-philosophische Substanz seiner
gereiften Poesie bezichtigt, soll ihn der Theilnahme für das volle Leben und
Ringen seiner Nation und seiner Zeit entzogen, er soll sich in den lauschigen
Winkel seines ländlichen Bersteckes geflüchtet haben, um nur von dem Getöse
des Freiheitskampfes auf den Märkten und Straßen des Vaterlandes nichts
zu hören. Aus dem glühenden Freiheitssänger von 1813 sei ein beschaulicher
Brahmine, wenn nicht noch etwas Schlimmeres geworden.

Bei Lebzeiten des Dichters hat man ihn wenigstens einmal gründlich durch
derartige Raisonnements zu kränken gewußt, ob absichtlich oder unabsichtlich,
mag dahin gestellt bleiben, obgleich jener "literarische Sanseulotismus". den
einst Goethe seinen lieben Landsleuten vorwarf, noch immer nicht ausgestor¬
ben ist. Ihn mit absichtlicher Böswilligkeit zu verwechseln, wäre verkehrt,
aber wer davon betroffen wird, fühlt sich eben doch nicht sehr behaglich be¬
rührt und so erging es dem greisen Dichter bei einer Veranlassung, die am
wenigsten dazu hätte führen sollen, nach dem Tode seines alten Freundes
Uhland im Herbste 1862. Es war eine eigenthümliche Ehrenbezeugung,
die man dem dahin geschiednen edlen Patrioten und Kämpfer für Recht und
Freiheit zu erweisen vermeinte, wenn man einen noch lebenden Gesinnungs¬
und Kunstgenossen beschimpfte und zwar bloß auf Hörensagen und eigenmäch¬
tige Conjecturen hin. Fr. Rückerr hatte seit dem "Kranz der Zeit", also 1817
schon, der politischen Poesie ausschließlich Lebewohl gesagt, aber wer wußte
denn, ob auch damit der Politik? Und dann ist ja auch nicht einmal das
erste wahr, obgleich es noch heute, um daraus eine Anklage zu formuliren,
wiederholt wird. Selbst wer sich nur an die "Gesammelten Gedichte" halten
wollte, in denen doch thatsächlich nur ein kleiner Theil der lyrischen Erzeug¬
nisse bis in die letzten dreißiger Jahre gesammelt ist, hört dort häufig genug
die ihm aus den "deutschen Gedichten" und dem "Kranz der Zeit" bekannten
Töne wieder erklingen. So Vieles, was seit 1840 entstand und an den ver¬
schiedensten Orten zerstreut ist, weil der Dichter selbst es absichtlich von jenen
größeren Sammlungen ausschloß, streift nicht bloß an die Politik, sondern


immer dieselbe. Schubart's Mittheilungen über die politischen Discussionen,
die er mit seinem Freunde besonders in und nach dem entscheidenden Jahre
1848 gepflogen, bestätigen nur, was Alle, die Fr. Rückerr näher standen, schon
lange wußten. Sie zeigen die Seele des Dichters bis in ihre tiefsten Tiefen
von den großen Ideen der Zeit erfaßt, so daß in den eigentlichen Wende¬
punkten der Tagesereignisse beinahe kein Raum für ein anderes Interesse blieb,
außer für die Allmacht der Poesie, die ja den Politiker sofort zum Dichter
gestaltete. Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, denn noch immer be¬
gegnet man den seltsamsten Ansichten und Vorurtheilen über die spätere poli¬
tische Stimmung und Haltung des Dichters der geharnischten Sonette, Der
„orientalische Quietismus", dessen man die ethisch-philosophische Substanz seiner
gereiften Poesie bezichtigt, soll ihn der Theilnahme für das volle Leben und
Ringen seiner Nation und seiner Zeit entzogen, er soll sich in den lauschigen
Winkel seines ländlichen Bersteckes geflüchtet haben, um nur von dem Getöse
des Freiheitskampfes auf den Märkten und Straßen des Vaterlandes nichts
zu hören. Aus dem glühenden Freiheitssänger von 1813 sei ein beschaulicher
Brahmine, wenn nicht noch etwas Schlimmeres geworden.

Bei Lebzeiten des Dichters hat man ihn wenigstens einmal gründlich durch
derartige Raisonnements zu kränken gewußt, ob absichtlich oder unabsichtlich,
mag dahin gestellt bleiben, obgleich jener „literarische Sanseulotismus". den
einst Goethe seinen lieben Landsleuten vorwarf, noch immer nicht ausgestor¬
ben ist. Ihn mit absichtlicher Böswilligkeit zu verwechseln, wäre verkehrt,
aber wer davon betroffen wird, fühlt sich eben doch nicht sehr behaglich be¬
rührt und so erging es dem greisen Dichter bei einer Veranlassung, die am
wenigsten dazu hätte führen sollen, nach dem Tode seines alten Freundes
Uhland im Herbste 1862. Es war eine eigenthümliche Ehrenbezeugung,
die man dem dahin geschiednen edlen Patrioten und Kämpfer für Recht und
Freiheit zu erweisen vermeinte, wenn man einen noch lebenden Gesinnungs¬
und Kunstgenossen beschimpfte und zwar bloß auf Hörensagen und eigenmäch¬
tige Conjecturen hin. Fr. Rückerr hatte seit dem „Kranz der Zeit", also 1817
schon, der politischen Poesie ausschließlich Lebewohl gesagt, aber wer wußte
denn, ob auch damit der Politik? Und dann ist ja auch nicht einmal das
erste wahr, obgleich es noch heute, um daraus eine Anklage zu formuliren,
wiederholt wird. Selbst wer sich nur an die „Gesammelten Gedichte" halten
wollte, in denen doch thatsächlich nur ein kleiner Theil der lyrischen Erzeug¬
nisse bis in die letzten dreißiger Jahre gesammelt ist, hört dort häufig genug
die ihm aus den „deutschen Gedichten" und dem „Kranz der Zeit" bekannten
Töne wieder erklingen. So Vieles, was seit 1840 entstand und an den ver¬
schiedensten Orten zerstreut ist, weil der Dichter selbst es absichtlich von jenen
größeren Sammlungen ausschloß, streift nicht bloß an die Politik, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/254>, abgerufen am 24.08.2024.