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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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nicht immer wieder hervorrufen kann. Diesmal war nur etwa die Naivität
des Herrn Virchow bemerkenswerth, mit welcher er die Katholiken einlud, die
Religion doch zu einer lediglich individuellen Angelegenheit zu machen; dann
würde der herrlichste Friede sofort hergestellt sein. Wir zweifeln nicht, daß,
wenn nur die Recepte des Herrn Virchow befolgt werden könnten, aller Streit
und Leidenschaft auf Erden ein Ende haben und die Weltgeschichte sich zur
Ruhe begeben würde. Wie schade, daß die geschichtlichen Kräfte Herrn Vir¬
chow so unzugänglich sind! Der Katholicismus besteht nun gerade darin, dem
sichtbaren Organismus der Kirche die Macht über das Seelenheil seiner Gläu¬
bigen beizulegen. Der Staat kann daher nicht umhin, einem Organismus,
der mit so ungeheurer Macht ausgestattet ist, wenigstens diejenigen Schranken
zu ziehen, welche die Selbständigkeit des Staates in seiner Sphäre, in der
Handhabung aller äußeren Macht verbürgen. Die Macht der katholischen
Kirche aber beruht nicht, wie Herr Virchow zu glauben scheint, auf einer son¬
derbaren Laune der Katholiken, sondern auf einem tief gewurzelten, weitver¬
breiteten Bedürfniß der Menschheit. Dieses Bedürfniß, welches allerdings der
Boden für alle Bestrebungen zur Aufrichtung einer kirchlichen Alleinherrschaft
von jeher gewesen und noch ist, kann, wenn überhaupt, eingeschränkt oder gar
beseitigt werden nur durch eine langsame Erhebung der Menschheit auf einen
andern Standpunkt der Religion und Sittlichkeit.

Herr Virchow hatte auch wieder einmal dem Staat empfohlen, den Kir¬
chen die Stellung anzuweisen, die jeder Verein, etwa eine Casinogesellschaft,
unter den allgemeinen Gesetzen, nicht etwa unter besonderen Gesetzen
hat. Diesen Standpunkt führte diesmal Herr Peter Reichensperger in ganz
besonders schlagender Weise aä absurclum, indem er ihn seinerseits zu Gunsten
der katholischen Kirche in Anspruch nahm. Er sagte: "wollen Sie für die
Beamten dieser Vereine, für die Erziehung eines jeden in einer Actiengesell-
schaft anzustellenden Beamten das akademische Triennium, die Staatsprüfung,
die Aufsicht über die Erziehung, das staatliche Einspruchsrecht und alle andern
Forderungen der Kirchengesetze vorschreiben?" schlagender konnte der Unter¬
schied zwischen den Kirchen, welche die innersten Lebenswurzeln des Staates
berühren, ja wir müssen sagen, ergreifen und umklammern, und solchen Ver¬
einen wie Casinos und Actiengesellschaften nicht vor Augen gestellt werden.
Ob dadurch wohl die Begriffe der Herren Virchow, Franz Dunker u. s. w.
etwas erhellt worden sind? Gegen solche Vereine, welche einen untergeordneten
Theil des gesellschaftlichen Lebens in localer Beschränkung ergreifen und cul-
tiviren. kann der Staat allerdings mit der bloßen RePression auskommen; er
kann abwarten, ob solche Vereine Schädlichkeiten zu Tage fördern. Den
Kirchen gegenüber muß er präventive Maßregeln ergreifen, weil ohne solche
der Staat eines Tages von schwer zerbrechlichen Ketten sich gefesselt finden würde.


nicht immer wieder hervorrufen kann. Diesmal war nur etwa die Naivität
des Herrn Virchow bemerkenswerth, mit welcher er die Katholiken einlud, die
Religion doch zu einer lediglich individuellen Angelegenheit zu machen; dann
würde der herrlichste Friede sofort hergestellt sein. Wir zweifeln nicht, daß,
wenn nur die Recepte des Herrn Virchow befolgt werden könnten, aller Streit
und Leidenschaft auf Erden ein Ende haben und die Weltgeschichte sich zur
Ruhe begeben würde. Wie schade, daß die geschichtlichen Kräfte Herrn Vir¬
chow so unzugänglich sind! Der Katholicismus besteht nun gerade darin, dem
sichtbaren Organismus der Kirche die Macht über das Seelenheil seiner Gläu¬
bigen beizulegen. Der Staat kann daher nicht umhin, einem Organismus,
der mit so ungeheurer Macht ausgestattet ist, wenigstens diejenigen Schranken
zu ziehen, welche die Selbständigkeit des Staates in seiner Sphäre, in der
Handhabung aller äußeren Macht verbürgen. Die Macht der katholischen
Kirche aber beruht nicht, wie Herr Virchow zu glauben scheint, auf einer son¬
derbaren Laune der Katholiken, sondern auf einem tief gewurzelten, weitver¬
breiteten Bedürfniß der Menschheit. Dieses Bedürfniß, welches allerdings der
Boden für alle Bestrebungen zur Aufrichtung einer kirchlichen Alleinherrschaft
von jeher gewesen und noch ist, kann, wenn überhaupt, eingeschränkt oder gar
beseitigt werden nur durch eine langsame Erhebung der Menschheit auf einen
andern Standpunkt der Religion und Sittlichkeit.

Herr Virchow hatte auch wieder einmal dem Staat empfohlen, den Kir¬
chen die Stellung anzuweisen, die jeder Verein, etwa eine Casinogesellschaft,
unter den allgemeinen Gesetzen, nicht etwa unter besonderen Gesetzen
hat. Diesen Standpunkt führte diesmal Herr Peter Reichensperger in ganz
besonders schlagender Weise aä absurclum, indem er ihn seinerseits zu Gunsten
der katholischen Kirche in Anspruch nahm. Er sagte: „wollen Sie für die
Beamten dieser Vereine, für die Erziehung eines jeden in einer Actiengesell-
schaft anzustellenden Beamten das akademische Triennium, die Staatsprüfung,
die Aufsicht über die Erziehung, das staatliche Einspruchsrecht und alle andern
Forderungen der Kirchengesetze vorschreiben?" schlagender konnte der Unter¬
schied zwischen den Kirchen, welche die innersten Lebenswurzeln des Staates
berühren, ja wir müssen sagen, ergreifen und umklammern, und solchen Ver¬
einen wie Casinos und Actiengesellschaften nicht vor Augen gestellt werden.
Ob dadurch wohl die Begriffe der Herren Virchow, Franz Dunker u. s. w.
etwas erhellt worden sind? Gegen solche Vereine, welche einen untergeordneten
Theil des gesellschaftlichen Lebens in localer Beschränkung ergreifen und cul-
tiviren. kann der Staat allerdings mit der bloßen RePression auskommen; er
kann abwarten, ob solche Vereine Schädlichkeiten zu Tage fördern. Den
Kirchen gegenüber muß er präventive Maßregeln ergreifen, weil ohne solche
der Staat eines Tages von schwer zerbrechlichen Ketten sich gefesselt finden würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/245>, abgerufen am 30.09.2024.