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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Fabrikthätigkeit und soll 125,840 Einwohner haben; wo aber sind der Glanz
und die übermüthige Lebensfreude jener Zeiten geblieben, in denen ein KarlV.
"sein Gard" hwo er geboren war) dem Paris Franz des Ersten vorzog,
wo die Artew cites "die Bauer von Gent" über Flandern herrschten, wo
auf der Grundlage reicher Gewerb- und Handelsthätigkeit sich mit am frühesten
in Nordeuropa Städtefreiheit und communales Selfgovernment entwickelt hatten?
Heute droht dem Handel Genes ein schwerer Schlag; denn der Gent-Brügger
Canal, auf dem Masten an Masten sich drängten, ehe Aldas Autodaft's aus
auf dem Vrydagsmarkt Gent's Blüthe knickten, ist in Gefahr zu versanden;
ein "atterrissement," von immer wachsender Ausdehnung hemmt die Schiffahrt,
und die belgische Negierung antwortet auf die Klagen der Genter Bürger
mit Palliativ-Maßregeln. Es scheint uns hier, wie bei manchen anderen internen
belgischen Fragen, die niemals völlig unterdrückte Stammeseifersucht zwischen
Wallonen und Vlamingern ins Spiel zu kommen. Gent hat sich stets durch
die Pflege der dem vlamischen Volksstamme theuren Reliquien einer ruhmvollen
Vergangenheit, durch Bewahrung vlcunischer Sinnesart, Sprache und Litera¬
tur ausgezeichnet; hier wirkten van Duyse (1- 1859). Dautzenberg u. A.;
Professor Stecher in Gent erhielt erst kürzlich aus dem vlamischen Willems-
fonds wohlverdienten Lohn für seine Verdienste um die vlamische Sprach¬
forschung. In neuerer Zeit ist durch die energischen Bestrebungen hervor¬
ragender vlamischer Männer die in der belgischen Verfassung verheißene
"Gleichberechtigung" des wallonischen und vlamischen Stammes mehr und
mehr zur Wahrheit geworden, wie z. B. die Anbringung vlamischer
Bezeichnungen an den öffentlichen Gebäuden, Wartesälen und Bahnhofs¬
lokalen neben den französischen Aufschriften darthut; noch immer aber
bedarf es erneuter Kämpfe, um das Erzwungene zu sichern. Wir hoffen,
daß ein Nest des stolzen Unabhängigkeitssinnes, der die "tetes äuros <1<z
I'IanZi-ö" meist beseelte und sie zur Bekämpfung widerrechtlicher Ansprüche
ihrer Beherrscher anfeuerte, sowie die niedersächsische Zähigkeit, welche ein
Erbtheil ihrer Herkunft ist, zur Behauptung ihres guten Rechts geschickt
machen wird. Im Grunde genommen ist selbst jene Rivalität des wallo¬
nischen und vlamischen Elements ein vortreffliches Mittel gegen die Stagnation,
welche sonst die vom Muttervolke isolirten Stämme und Volksreste zu corrum-
Piren pflegt. Wohl scheinen uns die breiten und treuherzig dreinschauenden
Physiognomien der Bewohner des vlamischen Maeslandes (zwischen Gent
und Antwerpen) völlig den Typus des deutschen Volksstammes herauszukehren;
man würde sich indessen erheblich getäuscht finden, wollte man hoffen, hier tieferen
Sympathien für Deutschland bei dem Volke im Allgemeinen (die Gebildeten
ausgenommen) zu begegnen. Das Deutschland, welches den Bruderstamm in
Flandern der Inquisition Philipps und den Autodafe's Alba's einst schutzlos


Grenjbuten 1. 1873. 30

Fabrikthätigkeit und soll 125,840 Einwohner haben; wo aber sind der Glanz
und die übermüthige Lebensfreude jener Zeiten geblieben, in denen ein KarlV.
„sein Gard" hwo er geboren war) dem Paris Franz des Ersten vorzog,
wo die Artew cites „die Bauer von Gent" über Flandern herrschten, wo
auf der Grundlage reicher Gewerb- und Handelsthätigkeit sich mit am frühesten
in Nordeuropa Städtefreiheit und communales Selfgovernment entwickelt hatten?
Heute droht dem Handel Genes ein schwerer Schlag; denn der Gent-Brügger
Canal, auf dem Masten an Masten sich drängten, ehe Aldas Autodaft's aus
auf dem Vrydagsmarkt Gent's Blüthe knickten, ist in Gefahr zu versanden;
ein „atterrissement," von immer wachsender Ausdehnung hemmt die Schiffahrt,
und die belgische Negierung antwortet auf die Klagen der Genter Bürger
mit Palliativ-Maßregeln. Es scheint uns hier, wie bei manchen anderen internen
belgischen Fragen, die niemals völlig unterdrückte Stammeseifersucht zwischen
Wallonen und Vlamingern ins Spiel zu kommen. Gent hat sich stets durch
die Pflege der dem vlamischen Volksstamme theuren Reliquien einer ruhmvollen
Vergangenheit, durch Bewahrung vlcunischer Sinnesart, Sprache und Litera¬
tur ausgezeichnet; hier wirkten van Duyse (1- 1859). Dautzenberg u. A.;
Professor Stecher in Gent erhielt erst kürzlich aus dem vlamischen Willems-
fonds wohlverdienten Lohn für seine Verdienste um die vlamische Sprach¬
forschung. In neuerer Zeit ist durch die energischen Bestrebungen hervor¬
ragender vlamischer Männer die in der belgischen Verfassung verheißene
„Gleichberechtigung" des wallonischen und vlamischen Stammes mehr und
mehr zur Wahrheit geworden, wie z. B. die Anbringung vlamischer
Bezeichnungen an den öffentlichen Gebäuden, Wartesälen und Bahnhofs¬
lokalen neben den französischen Aufschriften darthut; noch immer aber
bedarf es erneuter Kämpfe, um das Erzwungene zu sichern. Wir hoffen,
daß ein Nest des stolzen Unabhängigkeitssinnes, der die „tetes äuros <1<z
I'IanZi-ö" meist beseelte und sie zur Bekämpfung widerrechtlicher Ansprüche
ihrer Beherrscher anfeuerte, sowie die niedersächsische Zähigkeit, welche ein
Erbtheil ihrer Herkunft ist, zur Behauptung ihres guten Rechts geschickt
machen wird. Im Grunde genommen ist selbst jene Rivalität des wallo¬
nischen und vlamischen Elements ein vortreffliches Mittel gegen die Stagnation,
welche sonst die vom Muttervolke isolirten Stämme und Volksreste zu corrum-
Piren pflegt. Wohl scheinen uns die breiten und treuherzig dreinschauenden
Physiognomien der Bewohner des vlamischen Maeslandes (zwischen Gent
und Antwerpen) völlig den Typus des deutschen Volksstammes herauszukehren;
man würde sich indessen erheblich getäuscht finden, wollte man hoffen, hier tieferen
Sympathien für Deutschland bei dem Volke im Allgemeinen (die Gebildeten
ausgenommen) zu begegnen. Das Deutschland, welches den Bruderstamm in
Flandern der Inquisition Philipps und den Autodafe's Alba's einst schutzlos


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/241>, abgerufen am 29.09.2024.