Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

uns, wo das Publikum der auf sie gestützten Staatsgewalt gegenüber nahezu
rechtlos ist. Durch die Eisenbahn hat es ferner die Regierung völlig in der
Hand, jeden Bezirk des Landes wegen politischer Mißliebigkeit zu strafen, indem
sie -- Gründe sind ja billig zu haben -- Bahnzüge eingehen lassen oder auf
Tageszeiten verlegen kann, welche den Geschäftsverkehr stören, während sie
andere Bezirke durch Jnfluenzen, Retourkarten :c. begünstigen kann. Jeder
Abgeordnete, der die Anliegen seines Bezirks auch privatim vertreten soll,
kennt die peinliche Abhängigkeit, in welche er dadurch von der Regierung ver¬
setzt ist. Noch größer ist erklärlicherweise die Macht der Regierung, wenn es sich um
Neubauten handelt, da die Ständekammer, was die Traee im Detail betrifft,
thatsächlich keinen Einfluß hat. Die Eisenbahnverwaltung beherrscht dadurch
(wir erinnern nur an die Erbauung und Erweiterung der Bahnhöfe, die Zu¬
fahrtsstraßen :c.) den Güterverkehr und die Speculation über das Grundeigen¬
thum im ganzen Land, und wir brauchen kaum anzudeuten, welche Gefahren
für die Integrität des Beamtenthums hierin liegen. Es ist denn auch bereits
so weit gekommen, daß zwei Bezirke des Landes, welche bisher zu keiner Eisen¬
bahn hatten gelangen können, als letztes Hilfsmittel den Director der Eisen -
bahncommission und den ersten seiner Räthe bei der letzten Wahl in die
Ständekammer wählten, und diese Bezirke sind nun auch in der neuesten Vor¬
lage der Regierung mit einer Eisenbahn bedacht. Ist nun auch die naive
Offenheit, mit der die Vertreter der Regierung gleichzeitig vom Ministertisch
und der Abgeordnetenbank aus das ihren Wählern gegebene Versprechen aus¬
lösen, aller Anerkennung werth, so verlieren doch die Vorlagen der Regierung
hierdurch in den Augen des Publikums ganz denjenigen Charakter der Un¬
befangenheit, welchen man von den Organen des Staats zu erwarten berechtigt
ist. Wo in solcher Weise Staats- und Interessenvertretung durcheinander ge¬
mischt werden, darf man sich nicht wundern, wenn auch in der Ständekammer
das Wohl der Gesammtheit mehr und mehr in den Hintergrund tritt, und
nur noch ein häßlicher Kampf gegenseitiger Interessen übrig bleibt, wobei
fast Jeder nur daran denkt, die Staatsgewalt für seine Auftraggeber möglichst
zu gewinnen, und es der Regierung leicht werden muß, durch passend hinge¬
geworfene Köder sich eine Majorität zu sichern. Die treffliche Rede des Uni¬
versitätskanzlers Stadtrath von Rümelin, in welcher der bekannte Statistiker
der neuesten Regierungsvorlage mit einer hier zu Lande selten gewordenen
Unbefangenheit entgegentrat, und die finanzielle Lage Württembergs rücksichts¬
los enthüllte, mußte daher, so großen Eindruck sie auch machte, ohne Erfolg
bleiben: man wollte die Wahrheit nicht hören und horchte lieber den boden¬
losen Phantasien eines der obenerwähnten Regierungstechniker, welcher der Kammer
im Handumdrehen die Beseitigung des bisherigen Deficits durch die Er¬
bauung weiterer Bahnen auf Grund einer Reihe leerer Hypothesen in Aus-


uns, wo das Publikum der auf sie gestützten Staatsgewalt gegenüber nahezu
rechtlos ist. Durch die Eisenbahn hat es ferner die Regierung völlig in der
Hand, jeden Bezirk des Landes wegen politischer Mißliebigkeit zu strafen, indem
sie — Gründe sind ja billig zu haben — Bahnzüge eingehen lassen oder auf
Tageszeiten verlegen kann, welche den Geschäftsverkehr stören, während sie
andere Bezirke durch Jnfluenzen, Retourkarten :c. begünstigen kann. Jeder
Abgeordnete, der die Anliegen seines Bezirks auch privatim vertreten soll,
kennt die peinliche Abhängigkeit, in welche er dadurch von der Regierung ver¬
setzt ist. Noch größer ist erklärlicherweise die Macht der Regierung, wenn es sich um
Neubauten handelt, da die Ständekammer, was die Traee im Detail betrifft,
thatsächlich keinen Einfluß hat. Die Eisenbahnverwaltung beherrscht dadurch
(wir erinnern nur an die Erbauung und Erweiterung der Bahnhöfe, die Zu¬
fahrtsstraßen :c.) den Güterverkehr und die Speculation über das Grundeigen¬
thum im ganzen Land, und wir brauchen kaum anzudeuten, welche Gefahren
für die Integrität des Beamtenthums hierin liegen. Es ist denn auch bereits
so weit gekommen, daß zwei Bezirke des Landes, welche bisher zu keiner Eisen¬
bahn hatten gelangen können, als letztes Hilfsmittel den Director der Eisen -
bahncommission und den ersten seiner Räthe bei der letzten Wahl in die
Ständekammer wählten, und diese Bezirke sind nun auch in der neuesten Vor¬
lage der Regierung mit einer Eisenbahn bedacht. Ist nun auch die naive
Offenheit, mit der die Vertreter der Regierung gleichzeitig vom Ministertisch
und der Abgeordnetenbank aus das ihren Wählern gegebene Versprechen aus¬
lösen, aller Anerkennung werth, so verlieren doch die Vorlagen der Regierung
hierdurch in den Augen des Publikums ganz denjenigen Charakter der Un¬
befangenheit, welchen man von den Organen des Staats zu erwarten berechtigt
ist. Wo in solcher Weise Staats- und Interessenvertretung durcheinander ge¬
mischt werden, darf man sich nicht wundern, wenn auch in der Ständekammer
das Wohl der Gesammtheit mehr und mehr in den Hintergrund tritt, und
nur noch ein häßlicher Kampf gegenseitiger Interessen übrig bleibt, wobei
fast Jeder nur daran denkt, die Staatsgewalt für seine Auftraggeber möglichst
zu gewinnen, und es der Regierung leicht werden muß, durch passend hinge¬
geworfene Köder sich eine Majorität zu sichern. Die treffliche Rede des Uni¬
versitätskanzlers Stadtrath von Rümelin, in welcher der bekannte Statistiker
der neuesten Regierungsvorlage mit einer hier zu Lande selten gewordenen
Unbefangenheit entgegentrat, und die finanzielle Lage Württembergs rücksichts¬
los enthüllte, mußte daher, so großen Eindruck sie auch machte, ohne Erfolg
bleiben: man wollte die Wahrheit nicht hören und horchte lieber den boden¬
losen Phantasien eines der obenerwähnten Regierungstechniker, welcher der Kammer
im Handumdrehen die Beseitigung des bisherigen Deficits durch die Er¬
bauung weiterer Bahnen auf Grund einer Reihe leerer Hypothesen in Aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129229"/>
          <p xml:id="ID_757" prev="#ID_756" next="#ID_758"> uns, wo das Publikum der auf sie gestützten Staatsgewalt gegenüber nahezu<lb/>
rechtlos ist. Durch die Eisenbahn hat es ferner die Regierung völlig in der<lb/>
Hand, jeden Bezirk des Landes wegen politischer Mißliebigkeit zu strafen, indem<lb/>
sie &#x2014; Gründe sind ja billig zu haben &#x2014; Bahnzüge eingehen lassen oder auf<lb/>
Tageszeiten verlegen kann, welche den Geschäftsverkehr stören, während sie<lb/>
andere Bezirke durch Jnfluenzen, Retourkarten :c. begünstigen kann. Jeder<lb/>
Abgeordnete, der die Anliegen seines Bezirks auch privatim vertreten soll,<lb/>
kennt die peinliche Abhängigkeit, in welche er dadurch von der Regierung ver¬<lb/>
setzt ist. Noch größer ist erklärlicherweise die Macht der Regierung, wenn es sich um<lb/>
Neubauten handelt, da die Ständekammer, was die Traee im Detail betrifft,<lb/>
thatsächlich keinen Einfluß hat. Die Eisenbahnverwaltung beherrscht dadurch<lb/>
(wir erinnern nur an die Erbauung und Erweiterung der Bahnhöfe, die Zu¬<lb/>
fahrtsstraßen :c.) den Güterverkehr und die Speculation über das Grundeigen¬<lb/>
thum im ganzen Land, und wir brauchen kaum anzudeuten, welche Gefahren<lb/>
für die Integrität des Beamtenthums hierin liegen. Es ist denn auch bereits<lb/>
so weit gekommen, daß zwei Bezirke des Landes, welche bisher zu keiner Eisen¬<lb/>
bahn hatten gelangen können, als letztes Hilfsmittel den Director der Eisen -<lb/>
bahncommission und den ersten seiner Räthe bei der letzten Wahl in die<lb/>
Ständekammer wählten, und diese Bezirke sind nun auch in der neuesten Vor¬<lb/>
lage der Regierung mit einer Eisenbahn bedacht. Ist nun auch die naive<lb/>
Offenheit, mit der die Vertreter der Regierung gleichzeitig vom Ministertisch<lb/>
und der Abgeordnetenbank aus das ihren Wählern gegebene Versprechen aus¬<lb/>
lösen, aller Anerkennung werth, so verlieren doch die Vorlagen der Regierung<lb/>
hierdurch in den Augen des Publikums ganz denjenigen Charakter der Un¬<lb/>
befangenheit, welchen man von den Organen des Staats zu erwarten berechtigt<lb/>
ist. Wo in solcher Weise Staats- und Interessenvertretung durcheinander ge¬<lb/>
mischt werden, darf man sich nicht wundern, wenn auch in der Ständekammer<lb/>
das Wohl der Gesammtheit mehr und mehr in den Hintergrund tritt, und<lb/>
nur noch ein häßlicher Kampf gegenseitiger Interessen übrig bleibt, wobei<lb/>
fast Jeder nur daran denkt, die Staatsgewalt für seine Auftraggeber möglichst<lb/>
zu gewinnen, und es der Regierung leicht werden muß, durch passend hinge¬<lb/>
geworfene Köder sich eine Majorität zu sichern. Die treffliche Rede des Uni¬<lb/>
versitätskanzlers Stadtrath von Rümelin, in welcher der bekannte Statistiker<lb/>
der neuesten Regierungsvorlage mit einer hier zu Lande selten gewordenen<lb/>
Unbefangenheit entgegentrat, und die finanzielle Lage Württembergs rücksichts¬<lb/>
los enthüllte, mußte daher, so großen Eindruck sie auch machte, ohne Erfolg<lb/>
bleiben: man wollte die Wahrheit nicht hören und horchte lieber den boden¬<lb/>
losen Phantasien eines der obenerwähnten Regierungstechniker, welcher der Kammer<lb/>
im Handumdrehen die Beseitigung des bisherigen Deficits durch die Er¬<lb/>
bauung weiterer Bahnen auf Grund einer Reihe leerer Hypothesen in Aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] uns, wo das Publikum der auf sie gestützten Staatsgewalt gegenüber nahezu rechtlos ist. Durch die Eisenbahn hat es ferner die Regierung völlig in der Hand, jeden Bezirk des Landes wegen politischer Mißliebigkeit zu strafen, indem sie — Gründe sind ja billig zu haben — Bahnzüge eingehen lassen oder auf Tageszeiten verlegen kann, welche den Geschäftsverkehr stören, während sie andere Bezirke durch Jnfluenzen, Retourkarten :c. begünstigen kann. Jeder Abgeordnete, der die Anliegen seines Bezirks auch privatim vertreten soll, kennt die peinliche Abhängigkeit, in welche er dadurch von der Regierung ver¬ setzt ist. Noch größer ist erklärlicherweise die Macht der Regierung, wenn es sich um Neubauten handelt, da die Ständekammer, was die Traee im Detail betrifft, thatsächlich keinen Einfluß hat. Die Eisenbahnverwaltung beherrscht dadurch (wir erinnern nur an die Erbauung und Erweiterung der Bahnhöfe, die Zu¬ fahrtsstraßen :c.) den Güterverkehr und die Speculation über das Grundeigen¬ thum im ganzen Land, und wir brauchen kaum anzudeuten, welche Gefahren für die Integrität des Beamtenthums hierin liegen. Es ist denn auch bereits so weit gekommen, daß zwei Bezirke des Landes, welche bisher zu keiner Eisen¬ bahn hatten gelangen können, als letztes Hilfsmittel den Director der Eisen - bahncommission und den ersten seiner Räthe bei der letzten Wahl in die Ständekammer wählten, und diese Bezirke sind nun auch in der neuesten Vor¬ lage der Regierung mit einer Eisenbahn bedacht. Ist nun auch die naive Offenheit, mit der die Vertreter der Regierung gleichzeitig vom Ministertisch und der Abgeordnetenbank aus das ihren Wählern gegebene Versprechen aus¬ lösen, aller Anerkennung werth, so verlieren doch die Vorlagen der Regierung hierdurch in den Augen des Publikums ganz denjenigen Charakter der Un¬ befangenheit, welchen man von den Organen des Staats zu erwarten berechtigt ist. Wo in solcher Weise Staats- und Interessenvertretung durcheinander ge¬ mischt werden, darf man sich nicht wundern, wenn auch in der Ständekammer das Wohl der Gesammtheit mehr und mehr in den Hintergrund tritt, und nur noch ein häßlicher Kampf gegenseitiger Interessen übrig bleibt, wobei fast Jeder nur daran denkt, die Staatsgewalt für seine Auftraggeber möglichst zu gewinnen, und es der Regierung leicht werden muß, durch passend hinge¬ geworfene Köder sich eine Majorität zu sichern. Die treffliche Rede des Uni¬ versitätskanzlers Stadtrath von Rümelin, in welcher der bekannte Statistiker der neuesten Regierungsvorlage mit einer hier zu Lande selten gewordenen Unbefangenheit entgegentrat, und die finanzielle Lage Württembergs rücksichts¬ los enthüllte, mußte daher, so großen Eindruck sie auch machte, ohne Erfolg bleiben: man wollte die Wahrheit nicht hören und horchte lieber den boden¬ losen Phantasien eines der obenerwähnten Regierungstechniker, welcher der Kammer im Handumdrehen die Beseitigung des bisherigen Deficits durch die Er¬ bauung weiterer Bahnen auf Grund einer Reihe leerer Hypothesen in Aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/237>, abgerufen am 29.09.2024.