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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Civilrichter aber wird, obgleich der Strafrichter in Anwendung der Staatsge¬
setze die Bestrafung ablehnt, durch unsere neueste Proceß - Gesetzgebung ange¬
wiesen, den mit Nichtachtung der Staatsgesetze ergangenen Spruch des Ordi¬
nariats für bindend, die Frau für eine Coneubine, die Kinder für unehelich
zu erklären! Andererseits kam es vor einiger Zeit vor, daß die Staatsan¬
waltschaft einen katholischen Ortsvorsteher darüber zur Verantwortung zog,
weil derselbe sich außeramtlich gegen die Jnfallibiliiät ausgesprochen und seine
Würde als Ortsvorsteher dadurch blosgestellt habe! Gewiß, die Germania
hat allen Grund, mit Württemberg zufrieden zu sein!

Von Seiten der Ständekammer, welche soeben erst bei Einführung des
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz durch die Aufnahme der Orts¬
geistlichen als stimmberechtigte Mitglieder in die Ortsarmencommission ein
neues Band zwischen Staat und Kirche geschaffen hat, ist ohnehin ein kräftiger
Widerspruch nicht zu erwarten.

Unverkennbar ist unter solchen Umständen ein Gefühl der Sicherheit auf
Seiten des Ministeriums, welches ihm noch vor Kurzem fehlte. Man glaubt
nach Innen wie nach Außen alle Fäden so sicher in der Hand zu haben, daß
man für die nächste Zeit beruhigt den Status puo zu erhalten gedenkt: die
Scheu vor energischem Handeln ist auf Seiten der Stände wo möglich noch
größer als auf Seiten der Regierung, und einerseits die Herrschaft der mate¬
riellen Interessen, andererseits der mangelnde Glaube an die Zukunft des
Einzelstaats, verbunden mit einem auf sich selbst verzichtenden Fatalismus so
weit verbreitet, daß es einem Ministerium, welches, um jeder principiellen Er¬
örterung auszuweichen, allen Parteien entgegenkommt, für den Augenblick ein
Leichtes ist, sich gegenüber der rath- und thatlosen Masse unserer Kammer¬
politiker über dem Wasser zu erhalten.

Am meisten fühlt man sich erleichtert durch den Abgang des bisherigen
preußischen Gesandten, des Freih. von Rosenberg, dessen Entfernung in den
Regierungskrisen offen als ein Triumph der württembergischen Politik gegen¬
über dem Reich proclamirt wird. War dieselbe auch nur durch Vermittlung der
russischen Verwandtschaft und der russischen Diplomatie erzielt worden, so ging
doch die Intrigue gerade von denjenigen Hofkreisen aus, in welchen neuer¬
dings der Erminister und jetzige Consistorialpräsident von Golther, den s. z.
Pauly in den Preuß. Jahrb. v. 1866 so treffend geschildert hat, wiederum
an Einfluß zu gewinnen beginnt. Daß dieser Mann, der Freund und Ver¬
traute von Schaffte, der durch seine gehässige Verfolgung der nationalen Partei seit
1866 --im Jahr 1870 als Cultusminister unmöglich geworden -- in den Kreisen
des Hoff wieder zu besonderer Gnade angenommen ist, dürfte wohl die beste
Illustration zu den jetzt üblichen Betheuerungen der Reichstreue bilden. Daß
man aber gerade hier die fernere Anwesenheit des Herrn von Rosenberg un-


Civilrichter aber wird, obgleich der Strafrichter in Anwendung der Staatsge¬
setze die Bestrafung ablehnt, durch unsere neueste Proceß - Gesetzgebung ange¬
wiesen, den mit Nichtachtung der Staatsgesetze ergangenen Spruch des Ordi¬
nariats für bindend, die Frau für eine Coneubine, die Kinder für unehelich
zu erklären! Andererseits kam es vor einiger Zeit vor, daß die Staatsan¬
waltschaft einen katholischen Ortsvorsteher darüber zur Verantwortung zog,
weil derselbe sich außeramtlich gegen die Jnfallibiliiät ausgesprochen und seine
Würde als Ortsvorsteher dadurch blosgestellt habe! Gewiß, die Germania
hat allen Grund, mit Württemberg zufrieden zu sein!

Von Seiten der Ständekammer, welche soeben erst bei Einführung des
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz durch die Aufnahme der Orts¬
geistlichen als stimmberechtigte Mitglieder in die Ortsarmencommission ein
neues Band zwischen Staat und Kirche geschaffen hat, ist ohnehin ein kräftiger
Widerspruch nicht zu erwarten.

Unverkennbar ist unter solchen Umständen ein Gefühl der Sicherheit auf
Seiten des Ministeriums, welches ihm noch vor Kurzem fehlte. Man glaubt
nach Innen wie nach Außen alle Fäden so sicher in der Hand zu haben, daß
man für die nächste Zeit beruhigt den Status puo zu erhalten gedenkt: die
Scheu vor energischem Handeln ist auf Seiten der Stände wo möglich noch
größer als auf Seiten der Regierung, und einerseits die Herrschaft der mate¬
riellen Interessen, andererseits der mangelnde Glaube an die Zukunft des
Einzelstaats, verbunden mit einem auf sich selbst verzichtenden Fatalismus so
weit verbreitet, daß es einem Ministerium, welches, um jeder principiellen Er¬
örterung auszuweichen, allen Parteien entgegenkommt, für den Augenblick ein
Leichtes ist, sich gegenüber der rath- und thatlosen Masse unserer Kammer¬
politiker über dem Wasser zu erhalten.

Am meisten fühlt man sich erleichtert durch den Abgang des bisherigen
preußischen Gesandten, des Freih. von Rosenberg, dessen Entfernung in den
Regierungskrisen offen als ein Triumph der württembergischen Politik gegen¬
über dem Reich proclamirt wird. War dieselbe auch nur durch Vermittlung der
russischen Verwandtschaft und der russischen Diplomatie erzielt worden, so ging
doch die Intrigue gerade von denjenigen Hofkreisen aus, in welchen neuer¬
dings der Erminister und jetzige Consistorialpräsident von Golther, den s. z.
Pauly in den Preuß. Jahrb. v. 1866 so treffend geschildert hat, wiederum
an Einfluß zu gewinnen beginnt. Daß dieser Mann, der Freund und Ver¬
traute von Schaffte, der durch seine gehässige Verfolgung der nationalen Partei seit
1866 —im Jahr 1870 als Cultusminister unmöglich geworden — in den Kreisen
des Hoff wieder zu besonderer Gnade angenommen ist, dürfte wohl die beste
Illustration zu den jetzt üblichen Betheuerungen der Reichstreue bilden. Daß
man aber gerade hier die fernere Anwesenheit des Herrn von Rosenberg un-


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[0235] Civilrichter aber wird, obgleich der Strafrichter in Anwendung der Staatsge¬ setze die Bestrafung ablehnt, durch unsere neueste Proceß - Gesetzgebung ange¬ wiesen, den mit Nichtachtung der Staatsgesetze ergangenen Spruch des Ordi¬ nariats für bindend, die Frau für eine Coneubine, die Kinder für unehelich zu erklären! Andererseits kam es vor einiger Zeit vor, daß die Staatsan¬ waltschaft einen katholischen Ortsvorsteher darüber zur Verantwortung zog, weil derselbe sich außeramtlich gegen die Jnfallibiliiät ausgesprochen und seine Würde als Ortsvorsteher dadurch blosgestellt habe! Gewiß, die Germania hat allen Grund, mit Württemberg zufrieden zu sein! Von Seiten der Ständekammer, welche soeben erst bei Einführung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz durch die Aufnahme der Orts¬ geistlichen als stimmberechtigte Mitglieder in die Ortsarmencommission ein neues Band zwischen Staat und Kirche geschaffen hat, ist ohnehin ein kräftiger Widerspruch nicht zu erwarten. Unverkennbar ist unter solchen Umständen ein Gefühl der Sicherheit auf Seiten des Ministeriums, welches ihm noch vor Kurzem fehlte. Man glaubt nach Innen wie nach Außen alle Fäden so sicher in der Hand zu haben, daß man für die nächste Zeit beruhigt den Status puo zu erhalten gedenkt: die Scheu vor energischem Handeln ist auf Seiten der Stände wo möglich noch größer als auf Seiten der Regierung, und einerseits die Herrschaft der mate¬ riellen Interessen, andererseits der mangelnde Glaube an die Zukunft des Einzelstaats, verbunden mit einem auf sich selbst verzichtenden Fatalismus so weit verbreitet, daß es einem Ministerium, welches, um jeder principiellen Er¬ örterung auszuweichen, allen Parteien entgegenkommt, für den Augenblick ein Leichtes ist, sich gegenüber der rath- und thatlosen Masse unserer Kammer¬ politiker über dem Wasser zu erhalten. Am meisten fühlt man sich erleichtert durch den Abgang des bisherigen preußischen Gesandten, des Freih. von Rosenberg, dessen Entfernung in den Regierungskrisen offen als ein Triumph der württembergischen Politik gegen¬ über dem Reich proclamirt wird. War dieselbe auch nur durch Vermittlung der russischen Verwandtschaft und der russischen Diplomatie erzielt worden, so ging doch die Intrigue gerade von denjenigen Hofkreisen aus, in welchen neuer¬ dings der Erminister und jetzige Consistorialpräsident von Golther, den s. z. Pauly in den Preuß. Jahrb. v. 1866 so treffend geschildert hat, wiederum an Einfluß zu gewinnen beginnt. Daß dieser Mann, der Freund und Ver¬ traute von Schaffte, der durch seine gehässige Verfolgung der nationalen Partei seit 1866 —im Jahr 1870 als Cultusminister unmöglich geworden — in den Kreisen des Hoff wieder zu besonderer Gnade angenommen ist, dürfte wohl die beste Illustration zu den jetzt üblichen Betheuerungen der Reichstreue bilden. Daß man aber gerade hier die fernere Anwesenheit des Herrn von Rosenberg un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/235>, abgerufen am 29.09.2024.