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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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verfügt, vermag hier einzutreten und mit dem ihm für alle Glieder reichlich
zu Gebot stehenden geistigen Kapital die Lücken in einzelnen Staatswesen aus¬
zufüllen. Herr v, Mittnacht wird also mit seinem Widerstand gegen die Ein¬
heit des Rechts und des Gerichtswesens in Deutschland nichts weiter bewirken,
als daß auf einige Zeit noch die Stagnation der Rechtsentwicklung immer
größer, die wissenschaftliche Bildung und damit auch der Unabhängigkeitssinn
unseres Richterstands immer geringer wird. Aber schließlich wird man doch
dem Zwang der Verhältnisse sich beugen müssen. Eine solche Politik, trotz
aller Erfahrungen von 1866 und 1870 ist für jeden Einsichtigen schwer ver¬
ständlich, sie läßt sich nur durch unsere Personalien erklären.

Auffallend ist übrigens bei dieser Sachlage und Angesichts der energischen
Agitation von Seiten der nationalliberalen und Fortschrittspartei in Baiern
die Schläfrigkeit und Energielosigkeit, welche dermalen bei uns von nationaler
Seite dem Ministerium gegenüber an den Tag gelegt wird. Wir haben
neulich auf den drohenden Verfall der bisherigen deutschen Partei hingewiesen
und die Zwischenzeit hat uns Recht gegeben. Die "Stuttgarter Zeitung", das
einzige der Polemik gewidmete Organ dieser Partei, welche als Nachfolgerin
der "schwäbischen Volkszeitung" bisher unter schwierigen Verhältnissen mit
wechselndem Glück gegen die ultramontanen und particularistischen Gegner ge¬
kämpft hatte, hat mit dem 1. d. M. zu erscheinen aufgehört. Und doch wäre
ein nationales Parteiblatt gerade jetzt ein besonderes Bedürfniß, da der Par-
ticularismus überall wieder das Haupt zu erheben beginnt, und namentlich
die ultramontane Partei -- im Gegensatz zum übrigen Deutschland in Würt¬
temberg täglich mehr an Einfluß gewinnt, und durch die Connivenz der
Staatsbehörden die kleineren Anzeigeblätter auf dem Lande nach und nach
ganz in ihre Hände bekommt. Den Grund des Verfalls der bisherigen deut¬
schen Partei findet man ziemlich allgemein in den eigenthümlichen Verhältnissen
der Parteileitung in Stuttgart, welche außerhalb der Residenz vielleicht herber
beurtheilt werden, als sie es verdienen. Mag es auch immerhin Solche geben,
die von Siegen der deutschen Sache träumen, wenn ein Sitz im ständischen Aus¬
schuß, im Stuttgarter Gemeinderath oder Stadtverordnetencollegium in Folge
zweideutiger Bündnisse mit der Hofpartei einem schwach gefärbten nationalen
statt einem Volksparteimann zu Theil wird, so giebt es doch in Stuttgart
ehrliche Parteimänner genug, die sich der jetzigen Verhältnisse schämen. Gewiß
ist, daß von Stuttgart aus große Fehler gemacht wurden. Zuerst, als man
im December 1870 sich in ein Engagement mit demselben Ministerium ein¬
ließ, welches man seit 1866 mit allen Waffen bekämpft hatte. Damals wußten
es die Minister so einzurichten, daß hervorragende Vertreter der nationalen
Partei, welche seit Jahren der Wahlbeeinflussung entgegengetreten waren, zum
ersten Mal ihr Mandat den Einwirkungen der Bezirksbeamten, also thatsäch-


verfügt, vermag hier einzutreten und mit dem ihm für alle Glieder reichlich
zu Gebot stehenden geistigen Kapital die Lücken in einzelnen Staatswesen aus¬
zufüllen. Herr v, Mittnacht wird also mit seinem Widerstand gegen die Ein¬
heit des Rechts und des Gerichtswesens in Deutschland nichts weiter bewirken,
als daß auf einige Zeit noch die Stagnation der Rechtsentwicklung immer
größer, die wissenschaftliche Bildung und damit auch der Unabhängigkeitssinn
unseres Richterstands immer geringer wird. Aber schließlich wird man doch
dem Zwang der Verhältnisse sich beugen müssen. Eine solche Politik, trotz
aller Erfahrungen von 1866 und 1870 ist für jeden Einsichtigen schwer ver¬
ständlich, sie läßt sich nur durch unsere Personalien erklären.

Auffallend ist übrigens bei dieser Sachlage und Angesichts der energischen
Agitation von Seiten der nationalliberalen und Fortschrittspartei in Baiern
die Schläfrigkeit und Energielosigkeit, welche dermalen bei uns von nationaler
Seite dem Ministerium gegenüber an den Tag gelegt wird. Wir haben
neulich auf den drohenden Verfall der bisherigen deutschen Partei hingewiesen
und die Zwischenzeit hat uns Recht gegeben. Die „Stuttgarter Zeitung", das
einzige der Polemik gewidmete Organ dieser Partei, welche als Nachfolgerin
der „schwäbischen Volkszeitung" bisher unter schwierigen Verhältnissen mit
wechselndem Glück gegen die ultramontanen und particularistischen Gegner ge¬
kämpft hatte, hat mit dem 1. d. M. zu erscheinen aufgehört. Und doch wäre
ein nationales Parteiblatt gerade jetzt ein besonderes Bedürfniß, da der Par-
ticularismus überall wieder das Haupt zu erheben beginnt, und namentlich
die ultramontane Partei — im Gegensatz zum übrigen Deutschland in Würt¬
temberg täglich mehr an Einfluß gewinnt, und durch die Connivenz der
Staatsbehörden die kleineren Anzeigeblätter auf dem Lande nach und nach
ganz in ihre Hände bekommt. Den Grund des Verfalls der bisherigen deut¬
schen Partei findet man ziemlich allgemein in den eigenthümlichen Verhältnissen
der Parteileitung in Stuttgart, welche außerhalb der Residenz vielleicht herber
beurtheilt werden, als sie es verdienen. Mag es auch immerhin Solche geben,
die von Siegen der deutschen Sache träumen, wenn ein Sitz im ständischen Aus¬
schuß, im Stuttgarter Gemeinderath oder Stadtverordnetencollegium in Folge
zweideutiger Bündnisse mit der Hofpartei einem schwach gefärbten nationalen
statt einem Volksparteimann zu Theil wird, so giebt es doch in Stuttgart
ehrliche Parteimänner genug, die sich der jetzigen Verhältnisse schämen. Gewiß
ist, daß von Stuttgart aus große Fehler gemacht wurden. Zuerst, als man
im December 1870 sich in ein Engagement mit demselben Ministerium ein¬
ließ, welches man seit 1866 mit allen Waffen bekämpft hatte. Damals wußten
es die Minister so einzurichten, daß hervorragende Vertreter der nationalen
Partei, welche seit Jahren der Wahlbeeinflussung entgegengetreten waren, zum
ersten Mal ihr Mandat den Einwirkungen der Bezirksbeamten, also thatsäch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/198>, abgerufen am 24.08.2024.