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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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eine halbe, hören, so verstößt es auch nicht gegen das Kirchengebot, die letzte
Hälfte zuerst, und die erste Hälfte zuletzt zu hören." (Natürlich: ^-r-V^I,
und die Kirche verlangt nur 1). Aber weiter mit unserm vootor Zravis:
"Wenn zwei Priester zugleich lesen, und der eine anfängt, während der andere
schon bei der Consecration ist, so kann ich beide Hälften zugleich, mithin eine
ganze Messe hören."

Und noch nicht genug; denn Ehe ob ar ist ein Genie im Folgern. "Aus
diesem allen schließe ich", so fährt er fort, "daß man in ganz kurzer Zeit
eine Messe hören kann. Wenn man z. B. vier Priester zugleich an verschie¬
denen Altären (einer und derselben Kirche) fände, von denen der eine beim
Introitus, der andere beim Evangelium, der dritte bei der Consecration, der
vierte bei der Communion stände, so könnte man die ganze Messe auf ein
Mal abthun." Selbstverständlich; denn nach Adam Riese machen vier Viertel
ein Ganzes.

Die Neigung unseres Autors, im Interesse der Humanität consequent zu
sein, erreicht endlich ihren Gipfel im Folgenden: "Wer daher etwa drei Messen
hören muß, eine des Kirchengebotes, die andere eines Gelübdes wegen, die
dritte als auferlegte Buße, der thut genug, wenn er sie von drei Priestern
hört, die gerade zu einer und derselben Zeit lesen" -- eine Meinung, welcher
Busenbanm nach Sanchez und Major beipflichten kann.

Sollte man nicht, wenn man solche allen Ernstes vorgetragene Sachen
liest, meinen, man läse ein bisher unbekannt gebliebenes Kapitel der Geschichte
Till Eulenspiegels?




Schwäbische Zustände.

Jahresrückblick. -- Renitenz der Regierung gegen die nationale Entwicklung
der Reichsgesetzgebung und deren Folgen. -- Werfall der deutschen Partei.

Ein Rückblick auf die politische Entwicklung Schwabens im Laufe des ver¬
gangenen Jahrs gewährt, wenn man sich nicht mit Scheinerfolgen begnügen will,
wenig Befriedigung. Das Charakteristische dieses Jahrs ist die Stagnation
des politischen Lebens: die in der Gleichgiltigkeit gegen alle öffentlichen An¬
gelegenheiten ihren besonderen Ausdruck findet. Es läßt sich zwar nicht
leugnen, daß die große Masse unserer Bevölkerung selbst in den katholischen
Landestheilen das Reich und seine Einrichtungen bereits wie etwas alt ge¬
wöhntes, heimisches betrachtet. In jedem Hause trifft man die Bildnisse des
Kaisers und des Kronprinzen des deutschen Reichs, und die Rundreise des letzteren
im vorigen Herbst hat bewiesen, in welchen Enthusiasmus'unsere von Natur
in sich zurückgezogene, zu öffentlichen Gefühlsbezeugungen wenig bereite Be¬
völkerung durch die Anwesenheit des deutschen Thronfolgers versetzt wurde.


eine halbe, hören, so verstößt es auch nicht gegen das Kirchengebot, die letzte
Hälfte zuerst, und die erste Hälfte zuletzt zu hören." (Natürlich: ^-r-V^I,
und die Kirche verlangt nur 1). Aber weiter mit unserm vootor Zravis:
„Wenn zwei Priester zugleich lesen, und der eine anfängt, während der andere
schon bei der Consecration ist, so kann ich beide Hälften zugleich, mithin eine
ganze Messe hören."

Und noch nicht genug; denn Ehe ob ar ist ein Genie im Folgern. „Aus
diesem allen schließe ich", so fährt er fort, „daß man in ganz kurzer Zeit
eine Messe hören kann. Wenn man z. B. vier Priester zugleich an verschie¬
denen Altären (einer und derselben Kirche) fände, von denen der eine beim
Introitus, der andere beim Evangelium, der dritte bei der Consecration, der
vierte bei der Communion stände, so könnte man die ganze Messe auf ein
Mal abthun." Selbstverständlich; denn nach Adam Riese machen vier Viertel
ein Ganzes.

Die Neigung unseres Autors, im Interesse der Humanität consequent zu
sein, erreicht endlich ihren Gipfel im Folgenden: „Wer daher etwa drei Messen
hören muß, eine des Kirchengebotes, die andere eines Gelübdes wegen, die
dritte als auferlegte Buße, der thut genug, wenn er sie von drei Priestern
hört, die gerade zu einer und derselben Zeit lesen" — eine Meinung, welcher
Busenbanm nach Sanchez und Major beipflichten kann.

Sollte man nicht, wenn man solche allen Ernstes vorgetragene Sachen
liest, meinen, man läse ein bisher unbekannt gebliebenes Kapitel der Geschichte
Till Eulenspiegels?




Schwäbische Zustände.

Jahresrückblick. — Renitenz der Regierung gegen die nationale Entwicklung
der Reichsgesetzgebung und deren Folgen. — Werfall der deutschen Partei.

Ein Rückblick auf die politische Entwicklung Schwabens im Laufe des ver¬
gangenen Jahrs gewährt, wenn man sich nicht mit Scheinerfolgen begnügen will,
wenig Befriedigung. Das Charakteristische dieses Jahrs ist die Stagnation
des politischen Lebens: die in der Gleichgiltigkeit gegen alle öffentlichen An¬
gelegenheiten ihren besonderen Ausdruck findet. Es läßt sich zwar nicht
leugnen, daß die große Masse unserer Bevölkerung selbst in den katholischen
Landestheilen das Reich und seine Einrichtungen bereits wie etwas alt ge¬
wöhntes, heimisches betrachtet. In jedem Hause trifft man die Bildnisse des
Kaisers und des Kronprinzen des deutschen Reichs, und die Rundreise des letzteren
im vorigen Herbst hat bewiesen, in welchen Enthusiasmus'unsere von Natur
in sich zurückgezogene, zu öffentlichen Gefühlsbezeugungen wenig bereite Be¬
völkerung durch die Anwesenheit des deutschen Thronfolgers versetzt wurde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/195>, abgerufen am 24.08.2024.