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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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der Kunstwerke auf lange Zeit wichtig ist. Andererseits geschieht dem Glänze
des Colorits und der Wärme der Farbentöne dabei nicht im Mindesten Ein¬
trag. Die Grundzüge der Methode des am 18. Juni 186S auf der Höhe
des Schaffens aus dem Leben geschiedenen Meisters sind inzwischen aus seinem
Künstler-Testamente veröffentlicht worden. Als die reifsten seiner Schöpfungen
erschienen uns "I.s ?Kariz an (ZolsotKa", eine Kreuzaufrichtung, im Sujet
und in der Ausführung dem gleichen Gemälde des großen Rubens verwandt,
sodann das gewaltige Bild "1.6 vernisr O-mon", der Steg der Civilisation
über die rohe Barbarei des Krieges, die Aufrichtung eines Reiches des ewigen
Friedens, gewissermaßen das philosophische Glaubensbekenntniß von Wiertz,
eine Composition erfüllt von jenen Idealen der Menschheit, welchen Wiertz
bis zur Selbstverleugnung sich hingab, und von deren Höhen der staub¬
geborene Mensch zerschellt in die Wogen des Todes hinabstürzen muß. Diese
prometheische Begabung riß den Meister oft ins Monströse. Dämonische hinein,
ja sie verleitete ihn bisweilen zu Irrwegen, welche der echten Kunst Vernich¬
tung bringen. Bon seinen riesenhaften Entwürfen geben Zeugniß die Skizzen
und Studien zu den Bildern: ?in An Nonäs; I-es l'naus menagant I"
Loloil u. s. w,, deren Ausführung der Tod verhinderte; auch sie athmen in
der erschütternden Tragik der Stoffe, in der dramatischen Lebensfülle der Ge¬
stalten den Geist Michel Angelo's. wie er sich am reinsten in den Fresken
für die Decke der sixtinischen Kapelle in Rom ausspricht.

Mit diesen Eindrücken schieden wir von Brüssel, um noch den Kunst"
schätzen des alten Brügge einen Besuch abzustatten. Wer denkt nicht beim
Anblick Brügge's, seiner Canäle und gewaltigen Deiche an die Stelle Dante's,
in welcher der Dichter des Inferno die Deiche Brügge's mit den Dämmen
des "Stroms der Thränen" in der Unterwelt vergleicht. Längst ist die mari¬
time Größe Brügge's entschwunden; der Belfried auf den Hallen, welcher einst
das Gewühl des Weltmarktes der Niederlande. die Vertreter aller Völker, die
Erzeugnisse aller Zonen, das Gepränge des burgundischen Hofes sah, blickt
auf die verödeten Straßen herab, aus deren Häuserfa^aber zum Theil noch
ein Abglanz der alten flandrischen Herrlichkeit zu leuchten scheint. Brügge
repräsentirt die klassische Stätte des Ruhms der flandrischen Grafen und
burgundischen Herzöge; doch wir besahen nur flüchtig die in der Liebfrauen-
kirche befindlichen Grabmäler Carl's des Kühnen und Maria's von Burgund,
der letzten Sprossin des erlauchten Geschlechts, und eilten unter Führung
unseres liebenswürdigen Begleiters. Mr. Croy von der Agence Continentale,
der sich hier auf bekanntem Boden befand, nach dem Johanneshospital (Hospice
de Se. Jean) in der Nähe der NotreDame, um Hans Memlings Meister¬
werke zu bewundern. Bekanntlich ist die Geschichte von H. Memlings Aus¬
nahme ins Hospital nach der Schlacht bei Nancy (1477) ein Märchen; er war


der Kunstwerke auf lange Zeit wichtig ist. Andererseits geschieht dem Glänze
des Colorits und der Wärme der Farbentöne dabei nicht im Mindesten Ein¬
trag. Die Grundzüge der Methode des am 18. Juni 186S auf der Höhe
des Schaffens aus dem Leben geschiedenen Meisters sind inzwischen aus seinem
Künstler-Testamente veröffentlicht worden. Als die reifsten seiner Schöpfungen
erschienen uns „I.s ?Kariz an (ZolsotKa", eine Kreuzaufrichtung, im Sujet
und in der Ausführung dem gleichen Gemälde des großen Rubens verwandt,
sodann das gewaltige Bild „1.6 vernisr O-mon", der Steg der Civilisation
über die rohe Barbarei des Krieges, die Aufrichtung eines Reiches des ewigen
Friedens, gewissermaßen das philosophische Glaubensbekenntniß von Wiertz,
eine Composition erfüllt von jenen Idealen der Menschheit, welchen Wiertz
bis zur Selbstverleugnung sich hingab, und von deren Höhen der staub¬
geborene Mensch zerschellt in die Wogen des Todes hinabstürzen muß. Diese
prometheische Begabung riß den Meister oft ins Monströse. Dämonische hinein,
ja sie verleitete ihn bisweilen zu Irrwegen, welche der echten Kunst Vernich¬
tung bringen. Bon seinen riesenhaften Entwürfen geben Zeugniß die Skizzen
und Studien zu den Bildern: ?in An Nonäs; I-es l'naus menagant I»
Loloil u. s. w,, deren Ausführung der Tod verhinderte; auch sie athmen in
der erschütternden Tragik der Stoffe, in der dramatischen Lebensfülle der Ge¬
stalten den Geist Michel Angelo's. wie er sich am reinsten in den Fresken
für die Decke der sixtinischen Kapelle in Rom ausspricht.

Mit diesen Eindrücken schieden wir von Brüssel, um noch den Kunst«
schätzen des alten Brügge einen Besuch abzustatten. Wer denkt nicht beim
Anblick Brügge's, seiner Canäle und gewaltigen Deiche an die Stelle Dante's,
in welcher der Dichter des Inferno die Deiche Brügge's mit den Dämmen
des „Stroms der Thränen" in der Unterwelt vergleicht. Längst ist die mari¬
time Größe Brügge's entschwunden; der Belfried auf den Hallen, welcher einst
das Gewühl des Weltmarktes der Niederlande. die Vertreter aller Völker, die
Erzeugnisse aller Zonen, das Gepränge des burgundischen Hofes sah, blickt
auf die verödeten Straßen herab, aus deren Häuserfa^aber zum Theil noch
ein Abglanz der alten flandrischen Herrlichkeit zu leuchten scheint. Brügge
repräsentirt die klassische Stätte des Ruhms der flandrischen Grafen und
burgundischen Herzöge; doch wir besahen nur flüchtig die in der Liebfrauen-
kirche befindlichen Grabmäler Carl's des Kühnen und Maria's von Burgund,
der letzten Sprossin des erlauchten Geschlechts, und eilten unter Führung
unseres liebenswürdigen Begleiters. Mr. Croy von der Agence Continentale,
der sich hier auf bekanntem Boden befand, nach dem Johanneshospital (Hospice
de Se. Jean) in der Nähe der NotreDame, um Hans Memlings Meister¬
werke zu bewundern. Bekanntlich ist die Geschichte von H. Memlings Aus¬
nahme ins Hospital nach der Schlacht bei Nancy (1477) ein Märchen; er war


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/157>, abgerufen am 24.08.2024.