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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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in allen Äußerlichkeiten so schwerfällig, des künstlerischen Sinns so sehr be¬
raubt sein müssen? ob wir außer Stande sind, in der Gestaltung der Formen
des Lebens die Grazien zu Rathe zu ziehen, die ja bei der Geburt des
deutschen Volks ihr Antlitz von dessen Wiege abgewandt haben sollen? Man
sehe sich die, freilich den Parisern nachgeahmten, hübschen Zeitungs-Kiosks
in Brüssel an: es läßt sich kaum eine zweckentsprechendere Einrichtung für
das zeitungslesende Publikum denken; zugleich bilden diese Kiosks eine ange¬
nehme Straßenstaffage. Zu jeder Zeit kann man sich dort für fünf bis zehn
Centimes den täglichen Bedarf an Journalen jeder Art beschaffen; selbst be¬
liebte Tagesbrochüren sind dort zu haben. In Berlin ist es unmöglich, sich
jederzeit eins der tllustrirten Journale, oder Blätter wie die "Grenzboten" auf
der Straße zu kaufen. Zwar existiren dort Zeitungsverkäufer, welche unförm¬
liche Kasten herumtragen, in denen Zeitungen ausgelegt sind; aber die Or¬
ganisation ist mangelhaft; oft sieht man an einzelnen belebten Punkten drei
bis vier Verkäufer sich aushalten, welche den Verkehr geradezu hemmen, wäh¬
rend in anderen Straßen oder Stadttheilen Berlins weit und breit kein
"Zettungskasten" zu finden ist. Die gelesensten Blätter Brüssels sind wohl
das Echo und die Jndependanee; die Rubrik "Frankreich" dominirt darin fast
allzusehr. Berliner Zeitungen waren selbst in den größeren Cas6s nicht zu
sehen; die Kölnische ist in Belgien wie in Holland fast die alleinige Vertreterin
der deutschen Presse.

Die öffentlichen Gebäude Brüssels sind zur Genüge bekannt und beschrie¬
ben; unter ihnen verdienen .das Rathhaus mit seiner herrlichen Facade im
späteren gothischen Styl und die Cathedrale Se. Michel und Se. Gudule,
letztere unvollendet, aber von edlen und großartigen Verhältnissen, die einge¬
hendste Aufmerksamkeit. Von modernen Gebäuden ist die Brüsseler Bank
das bemerkenswertheste; die für den Verkehr mit dem Publikum bestimmten
Räume bilden eine weite, hohe Halle mit Galerien, von denen man das Ge-
wühl des Bankgeschäfts, das sich unten drängt, bequem übersehen kann.

Wer nach Brüssel kommt, darf nicht vergessen, das Muse'e Vtertz zu
besuchen. Die belgische Regierung hat bekanntlich im Jahre 1850 auf Ver-
anlassung des kunstsinnigen Rogier dem Schöpfer des gewaltigen Gemäldes
Le Triomphe du Christ, Antoine Wiertz, in der Nähe des zoologischen Gartens
ein großes Atelier und Landhaus errichten lassen, in dem jetzt die colossalen
Bilder dieses vielleicht an der dämonischen Gewalt seiner eigenen Compositio-
nen gescheiterten Genies als Nationaleigenthum aufbewahrt werden. Wiertz,
am 22. Februar 1806 in Dinant an der Maas geboren, hatte frühzeitig großes
Talent für die Malerei sowohl als auch für die Sculptur gezeigt. In der
Antwerpener Schule bildete er sich unter den Augen Herreyns' und van
Bree's, erfüllt von idealem Streben und mit seltenem Feuereifer, zum Histo-


in allen Äußerlichkeiten so schwerfällig, des künstlerischen Sinns so sehr be¬
raubt sein müssen? ob wir außer Stande sind, in der Gestaltung der Formen
des Lebens die Grazien zu Rathe zu ziehen, die ja bei der Geburt des
deutschen Volks ihr Antlitz von dessen Wiege abgewandt haben sollen? Man
sehe sich die, freilich den Parisern nachgeahmten, hübschen Zeitungs-Kiosks
in Brüssel an: es läßt sich kaum eine zweckentsprechendere Einrichtung für
das zeitungslesende Publikum denken; zugleich bilden diese Kiosks eine ange¬
nehme Straßenstaffage. Zu jeder Zeit kann man sich dort für fünf bis zehn
Centimes den täglichen Bedarf an Journalen jeder Art beschaffen; selbst be¬
liebte Tagesbrochüren sind dort zu haben. In Berlin ist es unmöglich, sich
jederzeit eins der tllustrirten Journale, oder Blätter wie die „Grenzboten" auf
der Straße zu kaufen. Zwar existiren dort Zeitungsverkäufer, welche unförm¬
liche Kasten herumtragen, in denen Zeitungen ausgelegt sind; aber die Or¬
ganisation ist mangelhaft; oft sieht man an einzelnen belebten Punkten drei
bis vier Verkäufer sich aushalten, welche den Verkehr geradezu hemmen, wäh¬
rend in anderen Straßen oder Stadttheilen Berlins weit und breit kein
„Zettungskasten" zu finden ist. Die gelesensten Blätter Brüssels sind wohl
das Echo und die Jndependanee; die Rubrik „Frankreich" dominirt darin fast
allzusehr. Berliner Zeitungen waren selbst in den größeren Cas6s nicht zu
sehen; die Kölnische ist in Belgien wie in Holland fast die alleinige Vertreterin
der deutschen Presse.

Die öffentlichen Gebäude Brüssels sind zur Genüge bekannt und beschrie¬
ben; unter ihnen verdienen .das Rathhaus mit seiner herrlichen Facade im
späteren gothischen Styl und die Cathedrale Se. Michel und Se. Gudule,
letztere unvollendet, aber von edlen und großartigen Verhältnissen, die einge¬
hendste Aufmerksamkeit. Von modernen Gebäuden ist die Brüsseler Bank
das bemerkenswertheste; die für den Verkehr mit dem Publikum bestimmten
Räume bilden eine weite, hohe Halle mit Galerien, von denen man das Ge-
wühl des Bankgeschäfts, das sich unten drängt, bequem übersehen kann.

Wer nach Brüssel kommt, darf nicht vergessen, das Muse'e Vtertz zu
besuchen. Die belgische Regierung hat bekanntlich im Jahre 1850 auf Ver-
anlassung des kunstsinnigen Rogier dem Schöpfer des gewaltigen Gemäldes
Le Triomphe du Christ, Antoine Wiertz, in der Nähe des zoologischen Gartens
ein großes Atelier und Landhaus errichten lassen, in dem jetzt die colossalen
Bilder dieses vielleicht an der dämonischen Gewalt seiner eigenen Compositio-
nen gescheiterten Genies als Nationaleigenthum aufbewahrt werden. Wiertz,
am 22. Februar 1806 in Dinant an der Maas geboren, hatte frühzeitig großes
Talent für die Malerei sowohl als auch für die Sculptur gezeigt. In der
Antwerpener Schule bildete er sich unter den Augen Herreyns' und van
Bree's, erfüllt von idealem Streben und mit seltenem Feuereifer, zum Histo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/155>, abgerufen am 24.08.2024.