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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Kreuz treten und geloben, in Betreff dessen, was sie in der Versammlung
sehen oder hören werden, strengste Verschwiegenheit zu bewahren, keine Fleisch¬
speisen zu essen, geistige Getränke zu vermeiden und öffentliche Orte zu fliehen,
wo man ihm sein Geheimniß entlocken könnte. Nachdem dies geschehen, legen
alle Anwesenden große weiße Hemden an und tanzen und springen zu wilden
Gesängen so lange, als sie es aushalten können. Dies dauert gewöhnlich
einige Stunden. Hierauf trinken sie Thee, und bei dieser Gelegenheit erhalten
die Neulinge ein narkotisches Mittel, welches sie in fühllosen Schlaf versenkt
.und die Skopzen in den Stand setzt, die bewußte Operation an ihnen zu
vollziehen.

Die Versammlungen der Skopzen fallen nicht auf die christlichen Sonn¬
tage und überhaupt nicht auf einen bestimmten Tag jeder Woche, sondern
werden von den Vorstehern jedesmal festgesetzt und den Eingeweihten kund¬
gegeben. Sie beginnen in der zehnten Abendstunde und dauern gewöhnlich
bis zum Anbruch des Morgens. Man eröffnet sie mit Liedern, welche von
den geistlichen Dichtern der Seete gedichtet sind und von Mund zu Mund
fortgepflanzt werden. Liturgische Bücher, in denen sie aufgezeichnet wären,
kennt man nicht. Ebenso wenig sind gedruckte oder geschriebene Gebetbücher
unter den Skopzen im Gebrauch. Jene Lieder aber sollen zwar von Gott
inspirirt sein, bestätigen das aber weder durch ihren Inhalt, der ein Durch¬
einander von allerhand Ausrufungen und zum Theil abgeschmackten Behaup¬
tungen ist, noch durch ihre Form, die sowohl im Stil als im Versmaß und
Reim viel zu wünschen übrig läßt. Man sehe sich z. B. folgendes Lied an,
welches in der Skopzengemeinde von Militopol beim Gottesdienst im Ge¬
brauch war:

"Segen über Dich, heilige Versammlung. Deine Gläubigen wollen dem
Herrn Ruhm darbringen in himmlischer Verzückung. Die Gemeinde bittet
den heiligen Geist, auf sie hernieder zu lächeln. O Herr, unser Leben, senke
Dich herab aus dem siebenten Himmel! Er kommt und schreitet durch die
Dörfer. Licht wohnt in ihm. Das Wort ist ergangen von dem Propheten:
wir sollen keine Sünde begehen. O meine Geliebten, ich will euch etwas
Wichtiges vermelden: der Schatz soll aufgestellt werden. Die geheime und
verborgene Mauer senkt sich um uns herab vom Himmel, und das Wasser
des Lebens strömt uns zu. Zögere nicht, denn ich bin auf dem Wege, die
Aussaat einzuernten. Unser Vater, der Czar Peter der Dritte, leidet zum
letzten Mal und neigt sich betend vor Zebaoth. Alle Metropoliten und Se¬
natoren sind voll Staunen über sein schweres Leiden. O mein himmlischer
Vater, ich gehorche Dem, was Du geboten. Deinen Befehl erfülle ich, ich
lehre ihn meinen kleinen Kindern und gebiete ihnen, dem Gesetze Gehorsam
zu leisten. Führe das himmlische Wort und bitte für uns bei Zebaoth, o


Kreuz treten und geloben, in Betreff dessen, was sie in der Versammlung
sehen oder hören werden, strengste Verschwiegenheit zu bewahren, keine Fleisch¬
speisen zu essen, geistige Getränke zu vermeiden und öffentliche Orte zu fliehen,
wo man ihm sein Geheimniß entlocken könnte. Nachdem dies geschehen, legen
alle Anwesenden große weiße Hemden an und tanzen und springen zu wilden
Gesängen so lange, als sie es aushalten können. Dies dauert gewöhnlich
einige Stunden. Hierauf trinken sie Thee, und bei dieser Gelegenheit erhalten
die Neulinge ein narkotisches Mittel, welches sie in fühllosen Schlaf versenkt
.und die Skopzen in den Stand setzt, die bewußte Operation an ihnen zu
vollziehen.

Die Versammlungen der Skopzen fallen nicht auf die christlichen Sonn¬
tage und überhaupt nicht auf einen bestimmten Tag jeder Woche, sondern
werden von den Vorstehern jedesmal festgesetzt und den Eingeweihten kund¬
gegeben. Sie beginnen in der zehnten Abendstunde und dauern gewöhnlich
bis zum Anbruch des Morgens. Man eröffnet sie mit Liedern, welche von
den geistlichen Dichtern der Seete gedichtet sind und von Mund zu Mund
fortgepflanzt werden. Liturgische Bücher, in denen sie aufgezeichnet wären,
kennt man nicht. Ebenso wenig sind gedruckte oder geschriebene Gebetbücher
unter den Skopzen im Gebrauch. Jene Lieder aber sollen zwar von Gott
inspirirt sein, bestätigen das aber weder durch ihren Inhalt, der ein Durch¬
einander von allerhand Ausrufungen und zum Theil abgeschmackten Behaup¬
tungen ist, noch durch ihre Form, die sowohl im Stil als im Versmaß und
Reim viel zu wünschen übrig läßt. Man sehe sich z. B. folgendes Lied an,
welches in der Skopzengemeinde von Militopol beim Gottesdienst im Ge¬
brauch war:

„Segen über Dich, heilige Versammlung. Deine Gläubigen wollen dem
Herrn Ruhm darbringen in himmlischer Verzückung. Die Gemeinde bittet
den heiligen Geist, auf sie hernieder zu lächeln. O Herr, unser Leben, senke
Dich herab aus dem siebenten Himmel! Er kommt und schreitet durch die
Dörfer. Licht wohnt in ihm. Das Wort ist ergangen von dem Propheten:
wir sollen keine Sünde begehen. O meine Geliebten, ich will euch etwas
Wichtiges vermelden: der Schatz soll aufgestellt werden. Die geheime und
verborgene Mauer senkt sich um uns herab vom Himmel, und das Wasser
des Lebens strömt uns zu. Zögere nicht, denn ich bin auf dem Wege, die
Aussaat einzuernten. Unser Vater, der Czar Peter der Dritte, leidet zum
letzten Mal und neigt sich betend vor Zebaoth. Alle Metropoliten und Se¬
natoren sind voll Staunen über sein schweres Leiden. O mein himmlischer
Vater, ich gehorche Dem, was Du geboten. Deinen Befehl erfülle ich, ich
lehre ihn meinen kleinen Kindern und gebiete ihnen, dem Gesetze Gehorsam
zu leisten. Führe das himmlische Wort und bitte für uns bei Zebaoth, o


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[0501] Kreuz treten und geloben, in Betreff dessen, was sie in der Versammlung sehen oder hören werden, strengste Verschwiegenheit zu bewahren, keine Fleisch¬ speisen zu essen, geistige Getränke zu vermeiden und öffentliche Orte zu fliehen, wo man ihm sein Geheimniß entlocken könnte. Nachdem dies geschehen, legen alle Anwesenden große weiße Hemden an und tanzen und springen zu wilden Gesängen so lange, als sie es aushalten können. Dies dauert gewöhnlich einige Stunden. Hierauf trinken sie Thee, und bei dieser Gelegenheit erhalten die Neulinge ein narkotisches Mittel, welches sie in fühllosen Schlaf versenkt .und die Skopzen in den Stand setzt, die bewußte Operation an ihnen zu vollziehen. Die Versammlungen der Skopzen fallen nicht auf die christlichen Sonn¬ tage und überhaupt nicht auf einen bestimmten Tag jeder Woche, sondern werden von den Vorstehern jedesmal festgesetzt und den Eingeweihten kund¬ gegeben. Sie beginnen in der zehnten Abendstunde und dauern gewöhnlich bis zum Anbruch des Morgens. Man eröffnet sie mit Liedern, welche von den geistlichen Dichtern der Seete gedichtet sind und von Mund zu Mund fortgepflanzt werden. Liturgische Bücher, in denen sie aufgezeichnet wären, kennt man nicht. Ebenso wenig sind gedruckte oder geschriebene Gebetbücher unter den Skopzen im Gebrauch. Jene Lieder aber sollen zwar von Gott inspirirt sein, bestätigen das aber weder durch ihren Inhalt, der ein Durch¬ einander von allerhand Ausrufungen und zum Theil abgeschmackten Behaup¬ tungen ist, noch durch ihre Form, die sowohl im Stil als im Versmaß und Reim viel zu wünschen übrig läßt. Man sehe sich z. B. folgendes Lied an, welches in der Skopzengemeinde von Militopol beim Gottesdienst im Ge¬ brauch war: „Segen über Dich, heilige Versammlung. Deine Gläubigen wollen dem Herrn Ruhm darbringen in himmlischer Verzückung. Die Gemeinde bittet den heiligen Geist, auf sie hernieder zu lächeln. O Herr, unser Leben, senke Dich herab aus dem siebenten Himmel! Er kommt und schreitet durch die Dörfer. Licht wohnt in ihm. Das Wort ist ergangen von dem Propheten: wir sollen keine Sünde begehen. O meine Geliebten, ich will euch etwas Wichtiges vermelden: der Schatz soll aufgestellt werden. Die geheime und verborgene Mauer senkt sich um uns herab vom Himmel, und das Wasser des Lebens strömt uns zu. Zögere nicht, denn ich bin auf dem Wege, die Aussaat einzuernten. Unser Vater, der Czar Peter der Dritte, leidet zum letzten Mal und neigt sich betend vor Zebaoth. Alle Metropoliten und Se¬ natoren sind voll Staunen über sein schweres Leiden. O mein himmlischer Vater, ich gehorche Dem, was Du geboten. Deinen Befehl erfülle ich, ich lehre ihn meinen kleinen Kindern und gebiete ihnen, dem Gesetze Gehorsam zu leisten. Führe das himmlische Wort und bitte für uns bei Zebaoth, o

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/501>, abgerufen am 22.07.2024.