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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Kaufleute in den Hauptstädten Rußlands, unter andern der mehrfache Millio¬
när Tretjakoff in Petersburg, arg compromittirt waren. Das Urtheil des
Gerichts siel ziemlich streng aus. Ploticyn wurde seiner Standesrechte und
Ehrenzeichen für verlustig erklärt und in die entlegeneren Gegenden Sibiriens
verbannt. Außer ihm traf noch zwölf männliche und neunzehn weibliche An¬
geklagte die Strafe der Verbannung nach dem fernen Nordasien. Der Bauer
Kusnezoff wurde wegen Verstümmelung seiner selbst und elf anderer Personen
zu vierjähriger Zwangsarbeit in den Bergwerken verurtheilt. Das "vorge¬
fundene Kapital" wurde vom Gerichtshofe den Erben Plotieyn's ausgehändigt,
der "Sache wegen der verschwundenen Summe" wollte man "weiter keine
Folge geben", die dem Polizeiminister übersandten zehntausend Rubel sprach
das Urtheil dem Reichsschatze zu.

Infolge der Entdeckungen in Plotieyn's Hause wurden in den verschieden¬
sten Gegenden des Reiches Processe gegen Skopzen anhängig gemacht, und
aus den Ergebnissen derselben entwickelten sich wieder Untersuchungen an an¬
dern Orten in langer Kette, die sich noch jetzt nicht ganz abgewickelt hat und
kein Ende zu haben scheint. Gegenwärtig sind solche Untersuchungen gleich¬
zeitig in Petersburg, wo man Zeugen aus den fernsten Gegenden vernahm,
in Moskau, in Tula, Tamboff und Riga im Gange. In Moskau waren es
zunächst die Gebrüder Kudrin, welche ins Auge gefaßt wurden. Man ent¬
deckte dabei, daß erstens diese selbst, dann aber auch mehrere der in ihrem
Hanse lebenden Weiber verschnitten waren, ferner, daß einige Dutzend Skopzen,
größtentheils Frauen, des Nachts zu wüsten Andachtsübungen zusammenzu¬
kommen pflegten, und daß in dem Hause eine photographische Anstalt einge¬
richtet war, welche Bilder der Heiligen und der Gottesmutter der Secte nach
allen Gegenden des Reiches versandte, sogar unter die lutherischen Finnen bei
Schlüsselburg und nach den Ostseeprovinzen.

Ein Theil der weniger schuldig befundenen Seetirer wurde, um vernünftig
zu werden, der geistigen Pflege von Klöstern übergeben, und auf diesem Wege
ist Einiges über ihre Aussagen in die Oeffentlichkeit gelangt. Besonders
lehrreich sind hier die amtlichen Urkunden des Klosters von Solowez, die der
Archimandrit desselben Dositheus der heiligen Synode überreichte, und die mit
andern Mittheilungen unlängst in dem Buche "Vorlesungen in der kaiserlichen
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer" in Petersburg publicirt worden
sind. Aus den Aussagen der Skopzen, denen wir hier begegnen, geht hervor,
daß die Secte aus einer kleinen Anzahl von schlauen Betrügern und vielen
Betrogenen besteht, welche letztere, allesammt ohne Bildung, zum Theil sehr
reich, der Mehrzahl nach aber unbemittelt sind. Viele gehören den untersten
Graden des Militärs an.

Das Geständnis? dieser letzten Klasse der Verführten lautete fast immer


Grenzboten IV. 1872. 62

Kaufleute in den Hauptstädten Rußlands, unter andern der mehrfache Millio¬
när Tretjakoff in Petersburg, arg compromittirt waren. Das Urtheil des
Gerichts siel ziemlich streng aus. Ploticyn wurde seiner Standesrechte und
Ehrenzeichen für verlustig erklärt und in die entlegeneren Gegenden Sibiriens
verbannt. Außer ihm traf noch zwölf männliche und neunzehn weibliche An¬
geklagte die Strafe der Verbannung nach dem fernen Nordasien. Der Bauer
Kusnezoff wurde wegen Verstümmelung seiner selbst und elf anderer Personen
zu vierjähriger Zwangsarbeit in den Bergwerken verurtheilt. Das „vorge¬
fundene Kapital" wurde vom Gerichtshofe den Erben Plotieyn's ausgehändigt,
der „Sache wegen der verschwundenen Summe" wollte man „weiter keine
Folge geben", die dem Polizeiminister übersandten zehntausend Rubel sprach
das Urtheil dem Reichsschatze zu.

Infolge der Entdeckungen in Plotieyn's Hause wurden in den verschieden¬
sten Gegenden des Reiches Processe gegen Skopzen anhängig gemacht, und
aus den Ergebnissen derselben entwickelten sich wieder Untersuchungen an an¬
dern Orten in langer Kette, die sich noch jetzt nicht ganz abgewickelt hat und
kein Ende zu haben scheint. Gegenwärtig sind solche Untersuchungen gleich¬
zeitig in Petersburg, wo man Zeugen aus den fernsten Gegenden vernahm,
in Moskau, in Tula, Tamboff und Riga im Gange. In Moskau waren es
zunächst die Gebrüder Kudrin, welche ins Auge gefaßt wurden. Man ent¬
deckte dabei, daß erstens diese selbst, dann aber auch mehrere der in ihrem
Hanse lebenden Weiber verschnitten waren, ferner, daß einige Dutzend Skopzen,
größtentheils Frauen, des Nachts zu wüsten Andachtsübungen zusammenzu¬
kommen pflegten, und daß in dem Hause eine photographische Anstalt einge¬
richtet war, welche Bilder der Heiligen und der Gottesmutter der Secte nach
allen Gegenden des Reiches versandte, sogar unter die lutherischen Finnen bei
Schlüsselburg und nach den Ostseeprovinzen.

Ein Theil der weniger schuldig befundenen Seetirer wurde, um vernünftig
zu werden, der geistigen Pflege von Klöstern übergeben, und auf diesem Wege
ist Einiges über ihre Aussagen in die Oeffentlichkeit gelangt. Besonders
lehrreich sind hier die amtlichen Urkunden des Klosters von Solowez, die der
Archimandrit desselben Dositheus der heiligen Synode überreichte, und die mit
andern Mittheilungen unlängst in dem Buche „Vorlesungen in der kaiserlichen
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer" in Petersburg publicirt worden
sind. Aus den Aussagen der Skopzen, denen wir hier begegnen, geht hervor,
daß die Secte aus einer kleinen Anzahl von schlauen Betrügern und vielen
Betrogenen besteht, welche letztere, allesammt ohne Bildung, zum Theil sehr
reich, der Mehrzahl nach aber unbemittelt sind. Viele gehören den untersten
Graden des Militärs an.

Das Geständnis? dieser letzten Klasse der Verführten lautete fast immer


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[0497] Kaufleute in den Hauptstädten Rußlands, unter andern der mehrfache Millio¬ när Tretjakoff in Petersburg, arg compromittirt waren. Das Urtheil des Gerichts siel ziemlich streng aus. Ploticyn wurde seiner Standesrechte und Ehrenzeichen für verlustig erklärt und in die entlegeneren Gegenden Sibiriens verbannt. Außer ihm traf noch zwölf männliche und neunzehn weibliche An¬ geklagte die Strafe der Verbannung nach dem fernen Nordasien. Der Bauer Kusnezoff wurde wegen Verstümmelung seiner selbst und elf anderer Personen zu vierjähriger Zwangsarbeit in den Bergwerken verurtheilt. Das „vorge¬ fundene Kapital" wurde vom Gerichtshofe den Erben Plotieyn's ausgehändigt, der „Sache wegen der verschwundenen Summe" wollte man „weiter keine Folge geben", die dem Polizeiminister übersandten zehntausend Rubel sprach das Urtheil dem Reichsschatze zu. Infolge der Entdeckungen in Plotieyn's Hause wurden in den verschieden¬ sten Gegenden des Reiches Processe gegen Skopzen anhängig gemacht, und aus den Ergebnissen derselben entwickelten sich wieder Untersuchungen an an¬ dern Orten in langer Kette, die sich noch jetzt nicht ganz abgewickelt hat und kein Ende zu haben scheint. Gegenwärtig sind solche Untersuchungen gleich¬ zeitig in Petersburg, wo man Zeugen aus den fernsten Gegenden vernahm, in Moskau, in Tula, Tamboff und Riga im Gange. In Moskau waren es zunächst die Gebrüder Kudrin, welche ins Auge gefaßt wurden. Man ent¬ deckte dabei, daß erstens diese selbst, dann aber auch mehrere der in ihrem Hanse lebenden Weiber verschnitten waren, ferner, daß einige Dutzend Skopzen, größtentheils Frauen, des Nachts zu wüsten Andachtsübungen zusammenzu¬ kommen pflegten, und daß in dem Hause eine photographische Anstalt einge¬ richtet war, welche Bilder der Heiligen und der Gottesmutter der Secte nach allen Gegenden des Reiches versandte, sogar unter die lutherischen Finnen bei Schlüsselburg und nach den Ostseeprovinzen. Ein Theil der weniger schuldig befundenen Seetirer wurde, um vernünftig zu werden, der geistigen Pflege von Klöstern übergeben, und auf diesem Wege ist Einiges über ihre Aussagen in die Oeffentlichkeit gelangt. Besonders lehrreich sind hier die amtlichen Urkunden des Klosters von Solowez, die der Archimandrit desselben Dositheus der heiligen Synode überreichte, und die mit andern Mittheilungen unlängst in dem Buche „Vorlesungen in der kaiserlichen Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer" in Petersburg publicirt worden sind. Aus den Aussagen der Skopzen, denen wir hier begegnen, geht hervor, daß die Secte aus einer kleinen Anzahl von schlauen Betrügern und vielen Betrogenen besteht, welche letztere, allesammt ohne Bildung, zum Theil sehr reich, der Mehrzahl nach aber unbemittelt sind. Viele gehören den untersten Graden des Militärs an. Das Geständnis? dieser letzten Klasse der Verführten lautete fast immer Grenzboten IV. 1872. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/497>, abgerufen am 22.07.2024.