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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Bestechungen nicht sparten. Gewöhnlich ergab die Untersuchung nur, daß der
Angeklagte das unselige Opfer einer Gewaltthat gewesen war, die ein Unbe¬
kannter im Freien oder in einer Schenke an ihm verübt hatte, während er
im Schlafe oder im Zustand schwerer Betrunkenheit gewesen war. Von den
Geheimnissen der Secte wußte derselbe nicht das Mindeste, ja die bloße Existenz
eines Vereins von Entmannten war ihm, wenn der Richter ihm Glauben
schenkte, unbekannt, vielleicht eine schändliche Fabel, vom bösen Feinde ersonnen
und unter die Leute gebracht. Hatte der Richter diesen Glauben nicht gleich
bereit, so wurde er ihm in der Regel dadurch beigebracht, daß man ihm die Hand
vergoldete, wo es dann eine Freisprechung oder im schlimmsten Fall eine milde
Strafe gab, gleichviel, ob es sich um einen Verführten oder um einen Ver¬
führer handelte.

Dieß wurde mit der Einführung der Geschwornengerichte anders, die be¬
kanntlich seit ungefähr zehn Jahren schon für alle Strafsachen in Rußland
eingesetzt sind. Die Bestechung eines öffentlichen aus mehreren Richtern zu¬
sammengesetzten Tribunals wie die Jury, die bewußte Parteinahme eines sol¬
chen Gerichts sind so ziemlich Dinge der Unmöglichkeit. Auch die Polizei ist
seit einiger Zeit in Rußland etwas besser geworden, und so nahmen die letzten
Processe meist einen sehr andern Ausgang als die früheren.

Im Jahre 1863 gingen aus den russischen Ortschaften am Asoff'schen
Meer, namentlich aus den Gemeinden Berdiansk und Milttopol zahlreiche
Klagen über das Umsichgreifen des Skopzenthums ein. Es erfolgte eine Un¬
tersuchung der Sache, welche die Richtigkeit der Eingaben zeigte. Das Un¬
wesen hatte wirklich schon weite Kreise der Bevölkerung ergriffen. Man fand
eine Menge verstümmelter Männer und Frauen vor. Die Hauptschuldigen,
darunter die Bäuerin Babanin, welche die Versammlungen der Skopzen von
Militopol geleitet und als Prophetin gegolten hatte, gingen ins Exil nach
Sibirien, Andere bestrafte man milder.

Bald indeß machte man die Entdeckung, daß man am Asoff'schen Meer
nur auf einen Nebenzweig der Secte gestoßen war. Der Mittelpunkt der
letzteren war die Stadt Morschansk im Gouvernement Tamboff. Hier waren
-- so erzählt ein stark romanhaft gefärbter und in Betreff der darin vorkom¬
menden Millionen wo nicht ganz unglaubwürdiger, doch stark übertreibender
Bericht -- in der Neujahrsnacht von 1369 bei dem Stabscapitän Scott
Gäste beisammen, zu denen auch der Polizeiminister Trischatny gehörte. In
der Mitternachtsstunde wurde letzterer hinausgerufen, wo ihm ein Diener des
Kaufmanns Ploticyn einen Brief seines Herrn übergab, in welchem derselbe
um die Freigebung von drei in Gewahrsam befindlichen Frauen bis zum
Morgen bat, wo sie sich dem Schließer wieder stellen würden. Dem Schreiben
war eine Erkenntlichkeit von zehntausend Rubeln in Bankbilleten beigelegt.


Bestechungen nicht sparten. Gewöhnlich ergab die Untersuchung nur, daß der
Angeklagte das unselige Opfer einer Gewaltthat gewesen war, die ein Unbe¬
kannter im Freien oder in einer Schenke an ihm verübt hatte, während er
im Schlafe oder im Zustand schwerer Betrunkenheit gewesen war. Von den
Geheimnissen der Secte wußte derselbe nicht das Mindeste, ja die bloße Existenz
eines Vereins von Entmannten war ihm, wenn der Richter ihm Glauben
schenkte, unbekannt, vielleicht eine schändliche Fabel, vom bösen Feinde ersonnen
und unter die Leute gebracht. Hatte der Richter diesen Glauben nicht gleich
bereit, so wurde er ihm in der Regel dadurch beigebracht, daß man ihm die Hand
vergoldete, wo es dann eine Freisprechung oder im schlimmsten Fall eine milde
Strafe gab, gleichviel, ob es sich um einen Verführten oder um einen Ver¬
führer handelte.

Dieß wurde mit der Einführung der Geschwornengerichte anders, die be¬
kanntlich seit ungefähr zehn Jahren schon für alle Strafsachen in Rußland
eingesetzt sind. Die Bestechung eines öffentlichen aus mehreren Richtern zu¬
sammengesetzten Tribunals wie die Jury, die bewußte Parteinahme eines sol¬
chen Gerichts sind so ziemlich Dinge der Unmöglichkeit. Auch die Polizei ist
seit einiger Zeit in Rußland etwas besser geworden, und so nahmen die letzten
Processe meist einen sehr andern Ausgang als die früheren.

Im Jahre 1863 gingen aus den russischen Ortschaften am Asoff'schen
Meer, namentlich aus den Gemeinden Berdiansk und Milttopol zahlreiche
Klagen über das Umsichgreifen des Skopzenthums ein. Es erfolgte eine Un¬
tersuchung der Sache, welche die Richtigkeit der Eingaben zeigte. Das Un¬
wesen hatte wirklich schon weite Kreise der Bevölkerung ergriffen. Man fand
eine Menge verstümmelter Männer und Frauen vor. Die Hauptschuldigen,
darunter die Bäuerin Babanin, welche die Versammlungen der Skopzen von
Militopol geleitet und als Prophetin gegolten hatte, gingen ins Exil nach
Sibirien, Andere bestrafte man milder.

Bald indeß machte man die Entdeckung, daß man am Asoff'schen Meer
nur auf einen Nebenzweig der Secte gestoßen war. Der Mittelpunkt der
letzteren war die Stadt Morschansk im Gouvernement Tamboff. Hier waren
— so erzählt ein stark romanhaft gefärbter und in Betreff der darin vorkom¬
menden Millionen wo nicht ganz unglaubwürdiger, doch stark übertreibender
Bericht — in der Neujahrsnacht von 1369 bei dem Stabscapitän Scott
Gäste beisammen, zu denen auch der Polizeiminister Trischatny gehörte. In
der Mitternachtsstunde wurde letzterer hinausgerufen, wo ihm ein Diener des
Kaufmanns Ploticyn einen Brief seines Herrn übergab, in welchem derselbe
um die Freigebung von drei in Gewahrsam befindlichen Frauen bis zum
Morgen bat, wo sie sich dem Schließer wieder stellen würden. Dem Schreiben
war eine Erkenntlichkeit von zehntausend Rubeln in Bankbilleten beigelegt.


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[0495] Bestechungen nicht sparten. Gewöhnlich ergab die Untersuchung nur, daß der Angeklagte das unselige Opfer einer Gewaltthat gewesen war, die ein Unbe¬ kannter im Freien oder in einer Schenke an ihm verübt hatte, während er im Schlafe oder im Zustand schwerer Betrunkenheit gewesen war. Von den Geheimnissen der Secte wußte derselbe nicht das Mindeste, ja die bloße Existenz eines Vereins von Entmannten war ihm, wenn der Richter ihm Glauben schenkte, unbekannt, vielleicht eine schändliche Fabel, vom bösen Feinde ersonnen und unter die Leute gebracht. Hatte der Richter diesen Glauben nicht gleich bereit, so wurde er ihm in der Regel dadurch beigebracht, daß man ihm die Hand vergoldete, wo es dann eine Freisprechung oder im schlimmsten Fall eine milde Strafe gab, gleichviel, ob es sich um einen Verführten oder um einen Ver¬ führer handelte. Dieß wurde mit der Einführung der Geschwornengerichte anders, die be¬ kanntlich seit ungefähr zehn Jahren schon für alle Strafsachen in Rußland eingesetzt sind. Die Bestechung eines öffentlichen aus mehreren Richtern zu¬ sammengesetzten Tribunals wie die Jury, die bewußte Parteinahme eines sol¬ chen Gerichts sind so ziemlich Dinge der Unmöglichkeit. Auch die Polizei ist seit einiger Zeit in Rußland etwas besser geworden, und so nahmen die letzten Processe meist einen sehr andern Ausgang als die früheren. Im Jahre 1863 gingen aus den russischen Ortschaften am Asoff'schen Meer, namentlich aus den Gemeinden Berdiansk und Milttopol zahlreiche Klagen über das Umsichgreifen des Skopzenthums ein. Es erfolgte eine Un¬ tersuchung der Sache, welche die Richtigkeit der Eingaben zeigte. Das Un¬ wesen hatte wirklich schon weite Kreise der Bevölkerung ergriffen. Man fand eine Menge verstümmelter Männer und Frauen vor. Die Hauptschuldigen, darunter die Bäuerin Babanin, welche die Versammlungen der Skopzen von Militopol geleitet und als Prophetin gegolten hatte, gingen ins Exil nach Sibirien, Andere bestrafte man milder. Bald indeß machte man die Entdeckung, daß man am Asoff'schen Meer nur auf einen Nebenzweig der Secte gestoßen war. Der Mittelpunkt der letzteren war die Stadt Morschansk im Gouvernement Tamboff. Hier waren — so erzählt ein stark romanhaft gefärbter und in Betreff der darin vorkom¬ menden Millionen wo nicht ganz unglaubwürdiger, doch stark übertreibender Bericht — in der Neujahrsnacht von 1369 bei dem Stabscapitän Scott Gäste beisammen, zu denen auch der Polizeiminister Trischatny gehörte. In der Mitternachtsstunde wurde letzterer hinausgerufen, wo ihm ein Diener des Kaufmanns Ploticyn einen Brief seines Herrn übergab, in welchem derselbe um die Freigebung von drei in Gewahrsam befindlichen Frauen bis zum Morgen bat, wo sie sich dem Schließer wieder stellen würden. Dem Schreiben war eine Erkenntlichkeit von zehntausend Rubeln in Bankbilleten beigelegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/495>, abgerufen am 25.08.2024.