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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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<Lin IM aus der russischen Sectenwelt.

Wie in England, so bestehen auch in Nußland neben der herrschenden
Staatskirche eine große Anzahl Secten zum Theil sehr eigenthümlicher Art.
Namentlich der Südwesten und noch mehr der Osten des Reiches ist voll von
solchen "Raskolniken", d. h. Ketzer, wie die Kirche sie nennt, oder "Staro-
wenzen", d. h. Altgläubige, wie sie selbst sich bezeichnen. Die Mehrzahl
dieser Afterkirchen entstand in Folge der Veränderungen, welche der Moskaner
Patriarch Nikce um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, von der Negie¬
rung unterstützt, in Bezug auf die bis dahin gebräuchliche Bibelübersetzung
und auf die Gebete und Gesänge beim Gottesdienste einführte. Die Ent¬
stehung anderer scheint in sehr alte Zeiten zurückzureichen und ist wohl
auf die mongolische Beimischung im Blute eines Theils der Bevölkerung
Rußlands zurückzuführen.

Jene Mehrzahl ist ziemlich harmloser Natur. Unter sich wieder in eine
Menge kleiner Kreise gespalten, unterscheidet sie sich von der orthodoxen Kirche
fast nur in Aeußerlichkeiten, auf die man jedoch großen Werth legt. Einige
und zwar die Meisten weichen nur darin von der Staatskirche ab, daß sie
deren Clerus, deren Bibel, deren liturgische Bücher nicht anerkennen, den
Namen Jesu Issus, nicht wie jener Jissus ausgesprochen wissen wollen, beim
Gebete zweimal das Halleluja, beim dritten Male aber "Gepriesen sei Gott!"
sagen, das Kreuz nicht mit den drei ersten Fingern der rechten Hand, sondern
-- um die zwei Naturen Christi anzudeuten -- mit dem Zeige- und Mittel¬
finger schlagen, und bei der Taufe, nicht wie die Angehörigen der Staatskirche
von der rechten zur linken Seite, sondern umgekehrt um den Taufstein gehen.
Andere verwerfen Communion, Firmelung und Trauung und haben statt der
Priester nur Aelteste, welche ihre Taufen vollziehen. Die Meisten halten
zugleich die alte Sitte und Tracht fest, verschmähen das in dieser Beziehung
von Europa Eingedrungene, lassen Bart und Kopfhaar ungeschoren, rauchen
keinen Tabak, auf Grund des Ausspruchs Jesu: nicht was in den Körper
eingehe, sondern was aus ihm herausgebe, sei Unreinigkeit und Befleckung
Hierher gehören auch die Malakani, d. h. Milchtrinker, die sich auch Jlci-
christiani, d. h. wahre Christen nennen. Sie wohnen auf der Krim und in


Grenzboten 1872. IV. gi
<Lin IM aus der russischen Sectenwelt.

Wie in England, so bestehen auch in Nußland neben der herrschenden
Staatskirche eine große Anzahl Secten zum Theil sehr eigenthümlicher Art.
Namentlich der Südwesten und noch mehr der Osten des Reiches ist voll von
solchen „Raskolniken", d. h. Ketzer, wie die Kirche sie nennt, oder „Staro-
wenzen", d. h. Altgläubige, wie sie selbst sich bezeichnen. Die Mehrzahl
dieser Afterkirchen entstand in Folge der Veränderungen, welche der Moskaner
Patriarch Nikce um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, von der Negie¬
rung unterstützt, in Bezug auf die bis dahin gebräuchliche Bibelübersetzung
und auf die Gebete und Gesänge beim Gottesdienste einführte. Die Ent¬
stehung anderer scheint in sehr alte Zeiten zurückzureichen und ist wohl
auf die mongolische Beimischung im Blute eines Theils der Bevölkerung
Rußlands zurückzuführen.

Jene Mehrzahl ist ziemlich harmloser Natur. Unter sich wieder in eine
Menge kleiner Kreise gespalten, unterscheidet sie sich von der orthodoxen Kirche
fast nur in Aeußerlichkeiten, auf die man jedoch großen Werth legt. Einige
und zwar die Meisten weichen nur darin von der Staatskirche ab, daß sie
deren Clerus, deren Bibel, deren liturgische Bücher nicht anerkennen, den
Namen Jesu Issus, nicht wie jener Jissus ausgesprochen wissen wollen, beim
Gebete zweimal das Halleluja, beim dritten Male aber „Gepriesen sei Gott!"
sagen, das Kreuz nicht mit den drei ersten Fingern der rechten Hand, sondern
— um die zwei Naturen Christi anzudeuten — mit dem Zeige- und Mittel¬
finger schlagen, und bei der Taufe, nicht wie die Angehörigen der Staatskirche
von der rechten zur linken Seite, sondern umgekehrt um den Taufstein gehen.
Andere verwerfen Communion, Firmelung und Trauung und haben statt der
Priester nur Aelteste, welche ihre Taufen vollziehen. Die Meisten halten
zugleich die alte Sitte und Tracht fest, verschmähen das in dieser Beziehung
von Europa Eingedrungene, lassen Bart und Kopfhaar ungeschoren, rauchen
keinen Tabak, auf Grund des Ausspruchs Jesu: nicht was in den Körper
eingehe, sondern was aus ihm herausgebe, sei Unreinigkeit und Befleckung
Hierher gehören auch die Malakani, d. h. Milchtrinker, die sich auch Jlci-
christiani, d. h. wahre Christen nennen. Sie wohnen auf der Krim und in


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[0489] <Lin IM aus der russischen Sectenwelt. Wie in England, so bestehen auch in Nußland neben der herrschenden Staatskirche eine große Anzahl Secten zum Theil sehr eigenthümlicher Art. Namentlich der Südwesten und noch mehr der Osten des Reiches ist voll von solchen „Raskolniken", d. h. Ketzer, wie die Kirche sie nennt, oder „Staro- wenzen", d. h. Altgläubige, wie sie selbst sich bezeichnen. Die Mehrzahl dieser Afterkirchen entstand in Folge der Veränderungen, welche der Moskaner Patriarch Nikce um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, von der Negie¬ rung unterstützt, in Bezug auf die bis dahin gebräuchliche Bibelübersetzung und auf die Gebete und Gesänge beim Gottesdienste einführte. Die Ent¬ stehung anderer scheint in sehr alte Zeiten zurückzureichen und ist wohl auf die mongolische Beimischung im Blute eines Theils der Bevölkerung Rußlands zurückzuführen. Jene Mehrzahl ist ziemlich harmloser Natur. Unter sich wieder in eine Menge kleiner Kreise gespalten, unterscheidet sie sich von der orthodoxen Kirche fast nur in Aeußerlichkeiten, auf die man jedoch großen Werth legt. Einige und zwar die Meisten weichen nur darin von der Staatskirche ab, daß sie deren Clerus, deren Bibel, deren liturgische Bücher nicht anerkennen, den Namen Jesu Issus, nicht wie jener Jissus ausgesprochen wissen wollen, beim Gebete zweimal das Halleluja, beim dritten Male aber „Gepriesen sei Gott!" sagen, das Kreuz nicht mit den drei ersten Fingern der rechten Hand, sondern — um die zwei Naturen Christi anzudeuten — mit dem Zeige- und Mittel¬ finger schlagen, und bei der Taufe, nicht wie die Angehörigen der Staatskirche von der rechten zur linken Seite, sondern umgekehrt um den Taufstein gehen. Andere verwerfen Communion, Firmelung und Trauung und haben statt der Priester nur Aelteste, welche ihre Taufen vollziehen. Die Meisten halten zugleich die alte Sitte und Tracht fest, verschmähen das in dieser Beziehung von Europa Eingedrungene, lassen Bart und Kopfhaar ungeschoren, rauchen keinen Tabak, auf Grund des Ausspruchs Jesu: nicht was in den Körper eingehe, sondern was aus ihm herausgebe, sei Unreinigkeit und Befleckung Hierher gehören auch die Malakani, d. h. Milchtrinker, die sich auch Jlci- christiani, d. h. wahre Christen nennen. Sie wohnen auf der Krim und in Grenzboten 1872. IV. gi

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/489>, abgerufen am 03.07.2024.