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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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brochen zu sein.' Aber der größte Theil jenes Hasses hatte eine andere Quelle.
Es war der Zorn unserer träumerischen Natur gegen einen Mann, der unsere
Forderungen und Einbildungen an den Bedingungen des wirklichen Handelns
ermaß. Es ist unglaublich, aber eine unleugbare Thatsache, daß wir das
Schwerste erträumten und meinten, der fortgesetzte Traum müsse uns das
wirkliche Gut bringen. Dabei gestaltete sich Jeder seinen eigenen Traum und
haderte mit aller Welt, daß Jeder den seinigen für den schönsten und be¬
gehrenswerthesten erklärte.

Es geht nicht anders, wie sehr auch eingebildete Klugheit dawider eifern
möge: die Massen können die Völkergeschicke nicht zur Reife bringen. Das
deutsche Volk ist nicht das einzige, welches durch den Traum einer hehren
Zukunft sich über die Armuth einer verkümmerten Gegenwart hinweggesetzt
hat. Aber unsere Eigenthümlichkeit war, daß wir über dem Traum nicht
nur verlernten, an die Besserung der Gegenwart selbst Hand anzulegen, son¬
dern einen förmlichen Haß nährten gegen jede practische Methode, die unhalt¬
bare Gegenwart zu überwinden und durch den wirklichen Ersatz den Traum
des Ersatzes überflüssig zu machen. Wie der Zustand der Erfüllung ein Traum
war, so sollten auch die Mittel traumhaft sein. Dieser Gemüthszustand dünkt
uns selbst ein Traum, und doch hat er gleichmäßig alle Parteien bei uns
Jahrzehende lang beherrscht. Sind wir wirklich gründlich bekehrt und be¬
lehrt? Wir sind wahrlich durch keinen Träumer erlöst worden, und Tausende
unseres Volkes haben bei dem Werk von Blut und Eisen geblutet. Aber der
geistige Antheil einer Nation, die geistig am höchsten dasteht, an der Grün¬
dung ihres Staates ist doch verhältnißmäßig so gering, daß die Gründung
in Mancher Augen noch wie das Werk eines fremden Zauberers dasteht. Es
giebt zuweilen wunderliche Reden, als sei der Nation damit das Beste ge¬
raubt, daß Alles für sie gethan worden. Wer nichts mehr zu thun hat, ist
am Ende. Die Gemüther, die solche überflüssige Sorgen nähren, haben keine
Ahnung von den ungeheuren Gefahren, von den feindlichen Kräften, die gegen
den deutschen Staat anstürmen werden, sobald er nicht mehr in der Zeit eines
auserwählten Rüstzeuges steht. Bereiten wir uns vor, um das, was mehr
für uns als von uns erarbeitet worden, zu behaupten und mit unserer ganzen
Lebenskraft zu durchdringen, wenn das Werk die Probe bestehen wird, ohne
den Meister fortzuleben. Dazu gehört nicht/ daß wir uns vorzeitig zur Füh¬
rung drängen; aber, daß wir auf die scheinbar stillen Wogen lauschen, die
sich eines Tages bäumen werden und uns prüfen, wie wir uns ihnen ent¬
gegenstellen. Es ist sehr gefährlich, wenn wir, die Arbeit vermissend, von
Gefahren der Erschlaffung träumen und dabei versäumen, auf das nahe Heer
der Feinde zu achten.




brochen zu sein.' Aber der größte Theil jenes Hasses hatte eine andere Quelle.
Es war der Zorn unserer träumerischen Natur gegen einen Mann, der unsere
Forderungen und Einbildungen an den Bedingungen des wirklichen Handelns
ermaß. Es ist unglaublich, aber eine unleugbare Thatsache, daß wir das
Schwerste erträumten und meinten, der fortgesetzte Traum müsse uns das
wirkliche Gut bringen. Dabei gestaltete sich Jeder seinen eigenen Traum und
haderte mit aller Welt, daß Jeder den seinigen für den schönsten und be¬
gehrenswerthesten erklärte.

Es geht nicht anders, wie sehr auch eingebildete Klugheit dawider eifern
möge: die Massen können die Völkergeschicke nicht zur Reife bringen. Das
deutsche Volk ist nicht das einzige, welches durch den Traum einer hehren
Zukunft sich über die Armuth einer verkümmerten Gegenwart hinweggesetzt
hat. Aber unsere Eigenthümlichkeit war, daß wir über dem Traum nicht
nur verlernten, an die Besserung der Gegenwart selbst Hand anzulegen, son¬
dern einen förmlichen Haß nährten gegen jede practische Methode, die unhalt¬
bare Gegenwart zu überwinden und durch den wirklichen Ersatz den Traum
des Ersatzes überflüssig zu machen. Wie der Zustand der Erfüllung ein Traum
war, so sollten auch die Mittel traumhaft sein. Dieser Gemüthszustand dünkt
uns selbst ein Traum, und doch hat er gleichmäßig alle Parteien bei uns
Jahrzehende lang beherrscht. Sind wir wirklich gründlich bekehrt und be¬
lehrt? Wir sind wahrlich durch keinen Träumer erlöst worden, und Tausende
unseres Volkes haben bei dem Werk von Blut und Eisen geblutet. Aber der
geistige Antheil einer Nation, die geistig am höchsten dasteht, an der Grün¬
dung ihres Staates ist doch verhältnißmäßig so gering, daß die Gründung
in Mancher Augen noch wie das Werk eines fremden Zauberers dasteht. Es
giebt zuweilen wunderliche Reden, als sei der Nation damit das Beste ge¬
raubt, daß Alles für sie gethan worden. Wer nichts mehr zu thun hat, ist
am Ende. Die Gemüther, die solche überflüssige Sorgen nähren, haben keine
Ahnung von den ungeheuren Gefahren, von den feindlichen Kräften, die gegen
den deutschen Staat anstürmen werden, sobald er nicht mehr in der Zeit eines
auserwählten Rüstzeuges steht. Bereiten wir uns vor, um das, was mehr
für uns als von uns erarbeitet worden, zu behaupten und mit unserer ganzen
Lebenskraft zu durchdringen, wenn das Werk die Probe bestehen wird, ohne
den Meister fortzuleben. Dazu gehört nicht/ daß wir uns vorzeitig zur Füh¬
rung drängen; aber, daß wir auf die scheinbar stillen Wogen lauschen, die
sich eines Tages bäumen werden und uns prüfen, wie wir uns ihnen ent¬
gegenstellen. Es ist sehr gefährlich, wenn wir, die Arbeit vermissend, von
Gefahren der Erschlaffung träumen und dabei versäumen, auf das nahe Heer
der Feinde zu achten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/45>, abgerufen am 22.07.2024.