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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Irrthum, welcher der Verfasserin nachzuweisen sein dürfte, sonst ist ihr Buch
mit einer unangreifbaren Logik geschrieben. Es gehörte Muth, ja mehr,
Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst dazu, sich Mis Lenore deutlich vorzustellen
und dann diese Conception auszuführen. Die Verfasserin hat diesen Muth
und diese Rücksichtslosigkeit gehabt, und das Resultat ist ein Werk gewesen,
in welchem nicht eine Seite zu finden ist, die langweilig, aber ebensowenig
ein Wort, das erquickend wäre. Gequake von Anfang bis zu Ende verfolgt
man das in Worten wie in Gedanken gleich rohe Mädchen, wie es sich mit
wahnsinniger Thorheit um Glück und Leben bringt und sich zuletzt wüthend
gegen den Tod wehrt. Man wird durch das Talent der Verfasserin ge¬
zwungen, ihr Buch durchzulesen, aber man athmet auf. wenn man fertig ist,
und man wünscht unwillkürlich, sie möchte einem kein zweites der Art zu-
muthen --- indem man es sonst wieder lesen müßte.

Ebenfalls peinigend, wenn gleich in anderer Weise, wirkt "LoMmiu?,
g, liomimee do MA-imiel Ilantliorns (vol. 30), die letzte Erzählung, welche
der amerikanische Romandtchter geschrieben. Seine Tochter hat sie, ungefeilt
wie sie sich vorfand, herausgegeben, ein Verfahren, das wir nicht genug
billigen können, denn Nichts hat je unser literarisches Gefühl mehr verletzt,
als das "Fertigmachen" unvollendet gebliebener Schöpfungen durch Nach¬
lebende. Aus dieser Pietät ergiebt sich indessen wiederum, daß wir "Septimius"
nur als Entwurf beurtheilen dürfen, so ausgearbeitet er im Einzelnen auch
schon erscheint. Ungefähr in der Mitte des Buches finden wir die erste Ge¬
liebte des Helden in seine Halbschwester verwandelt, und ähnliche Verände"
rungen würden vielleicht vom Dichter noch mehrere vorgenommen worden sein.
Die Hauptidee wird gleich Anfangs in einem Frühlingsgespräch zwischen drei
von den Hauptpersonen: Septimius, seiner Halbschwester und deren späterem
Gatten dargelegt. "Es bedeutet Nichts, ob wir leben oder nicht", sagt Sep¬
timius. -- "Es bedeutet Nichts!" wiederholt Rose. "Es bedeutet Nichts, und
es ist solch ein Comfort zu leben, so vergnüglich, so süß!" -- "Ja, und es
giebt so viele Dinge zu thun", spricht Robert; "den Feldern Ertrag abzu¬
gewinnen, thätig mit den Männern und glücklich mit den Frauen zu sein;
sich zu unterhalten, zu arbeiten, zu kämpfen --" -- "Ja, aber so bald an¬
gehalten zu werden, bevor unsere Thätigkeit zu irgend einem bestimmten Ende
gediehen ist", sagt Septimius düster. "Ich zweifle, wäre mir die Wahl
gelassen worden, ob ich das Dasein unter diesen Bedingungen angenommen
hätte: so viel Umstände mit der Vorbereitung zum Leben, und dann gar
kein eigentliches Leben; ein schwerer Anfang und Nichts weiter." -- "Immer
dieselbe Klage!" sagt Robert. "Septimius, wie lange wünscht Ihr zu leben?"
-- "Für immer", antwortete Septimius. "Das ist nicht zu lange für Alles,
was ich zu wissen wünsche." -- Später sagt Septimius zu seinem Religions-
lehrer: "das ganze menschliche Geschlecht so zahlreich und mannichfach es sei,


Irrthum, welcher der Verfasserin nachzuweisen sein dürfte, sonst ist ihr Buch
mit einer unangreifbaren Logik geschrieben. Es gehörte Muth, ja mehr,
Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst dazu, sich Mis Lenore deutlich vorzustellen
und dann diese Conception auszuführen. Die Verfasserin hat diesen Muth
und diese Rücksichtslosigkeit gehabt, und das Resultat ist ein Werk gewesen,
in welchem nicht eine Seite zu finden ist, die langweilig, aber ebensowenig
ein Wort, das erquickend wäre. Gequake von Anfang bis zu Ende verfolgt
man das in Worten wie in Gedanken gleich rohe Mädchen, wie es sich mit
wahnsinniger Thorheit um Glück und Leben bringt und sich zuletzt wüthend
gegen den Tod wehrt. Man wird durch das Talent der Verfasserin ge¬
zwungen, ihr Buch durchzulesen, aber man athmet auf. wenn man fertig ist,
und man wünscht unwillkürlich, sie möchte einem kein zweites der Art zu-
muthen —- indem man es sonst wieder lesen müßte.

Ebenfalls peinigend, wenn gleich in anderer Weise, wirkt „LoMmiu?,
g, liomimee do MA-imiel Ilantliorns (vol. 30), die letzte Erzählung, welche
der amerikanische Romandtchter geschrieben. Seine Tochter hat sie, ungefeilt
wie sie sich vorfand, herausgegeben, ein Verfahren, das wir nicht genug
billigen können, denn Nichts hat je unser literarisches Gefühl mehr verletzt,
als das „Fertigmachen" unvollendet gebliebener Schöpfungen durch Nach¬
lebende. Aus dieser Pietät ergiebt sich indessen wiederum, daß wir „Septimius"
nur als Entwurf beurtheilen dürfen, so ausgearbeitet er im Einzelnen auch
schon erscheint. Ungefähr in der Mitte des Buches finden wir die erste Ge¬
liebte des Helden in seine Halbschwester verwandelt, und ähnliche Verände«
rungen würden vielleicht vom Dichter noch mehrere vorgenommen worden sein.
Die Hauptidee wird gleich Anfangs in einem Frühlingsgespräch zwischen drei
von den Hauptpersonen: Septimius, seiner Halbschwester und deren späterem
Gatten dargelegt. „Es bedeutet Nichts, ob wir leben oder nicht", sagt Sep¬
timius. — „Es bedeutet Nichts!" wiederholt Rose. „Es bedeutet Nichts, und
es ist solch ein Comfort zu leben, so vergnüglich, so süß!" — „Ja, und es
giebt so viele Dinge zu thun", spricht Robert; „den Feldern Ertrag abzu¬
gewinnen, thätig mit den Männern und glücklich mit den Frauen zu sein;
sich zu unterhalten, zu arbeiten, zu kämpfen —" — „Ja, aber so bald an¬
gehalten zu werden, bevor unsere Thätigkeit zu irgend einem bestimmten Ende
gediehen ist", sagt Septimius düster. „Ich zweifle, wäre mir die Wahl
gelassen worden, ob ich das Dasein unter diesen Bedingungen angenommen
hätte: so viel Umstände mit der Vorbereitung zum Leben, und dann gar
kein eigentliches Leben; ein schwerer Anfang und Nichts weiter." — „Immer
dieselbe Klage!" sagt Robert. „Septimius, wie lange wünscht Ihr zu leben?"
— „Für immer", antwortete Septimius. „Das ist nicht zu lange für Alles,
was ich zu wissen wünsche." — Später sagt Septimius zu seinem Religions-
lehrer: „das ganze menschliche Geschlecht so zahlreich und mannichfach es sei,


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[0392] Irrthum, welcher der Verfasserin nachzuweisen sein dürfte, sonst ist ihr Buch mit einer unangreifbaren Logik geschrieben. Es gehörte Muth, ja mehr, Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst dazu, sich Mis Lenore deutlich vorzustellen und dann diese Conception auszuführen. Die Verfasserin hat diesen Muth und diese Rücksichtslosigkeit gehabt, und das Resultat ist ein Werk gewesen, in welchem nicht eine Seite zu finden ist, die langweilig, aber ebensowenig ein Wort, das erquickend wäre. Gequake von Anfang bis zu Ende verfolgt man das in Worten wie in Gedanken gleich rohe Mädchen, wie es sich mit wahnsinniger Thorheit um Glück und Leben bringt und sich zuletzt wüthend gegen den Tod wehrt. Man wird durch das Talent der Verfasserin ge¬ zwungen, ihr Buch durchzulesen, aber man athmet auf. wenn man fertig ist, und man wünscht unwillkürlich, sie möchte einem kein zweites der Art zu- muthen —- indem man es sonst wieder lesen müßte. Ebenfalls peinigend, wenn gleich in anderer Weise, wirkt „LoMmiu?, g, liomimee do MA-imiel Ilantliorns (vol. 30), die letzte Erzählung, welche der amerikanische Romandtchter geschrieben. Seine Tochter hat sie, ungefeilt wie sie sich vorfand, herausgegeben, ein Verfahren, das wir nicht genug billigen können, denn Nichts hat je unser literarisches Gefühl mehr verletzt, als das „Fertigmachen" unvollendet gebliebener Schöpfungen durch Nach¬ lebende. Aus dieser Pietät ergiebt sich indessen wiederum, daß wir „Septimius" nur als Entwurf beurtheilen dürfen, so ausgearbeitet er im Einzelnen auch schon erscheint. Ungefähr in der Mitte des Buches finden wir die erste Ge¬ liebte des Helden in seine Halbschwester verwandelt, und ähnliche Verände« rungen würden vielleicht vom Dichter noch mehrere vorgenommen worden sein. Die Hauptidee wird gleich Anfangs in einem Frühlingsgespräch zwischen drei von den Hauptpersonen: Septimius, seiner Halbschwester und deren späterem Gatten dargelegt. „Es bedeutet Nichts, ob wir leben oder nicht", sagt Sep¬ timius. — „Es bedeutet Nichts!" wiederholt Rose. „Es bedeutet Nichts, und es ist solch ein Comfort zu leben, so vergnüglich, so süß!" — „Ja, und es giebt so viele Dinge zu thun", spricht Robert; „den Feldern Ertrag abzu¬ gewinnen, thätig mit den Männern und glücklich mit den Frauen zu sein; sich zu unterhalten, zu arbeiten, zu kämpfen —" — „Ja, aber so bald an¬ gehalten zu werden, bevor unsere Thätigkeit zu irgend einem bestimmten Ende gediehen ist", sagt Septimius düster. „Ich zweifle, wäre mir die Wahl gelassen worden, ob ich das Dasein unter diesen Bedingungen angenommen hätte: so viel Umstände mit der Vorbereitung zum Leben, und dann gar kein eigentliches Leben; ein schwerer Anfang und Nichts weiter." — „Immer dieselbe Klage!" sagt Robert. „Septimius, wie lange wünscht Ihr zu leben?" — „Für immer", antwortete Septimius. „Das ist nicht zu lange für Alles, was ich zu wissen wünsche." — Später sagt Septimius zu seinem Religions- lehrer: „das ganze menschliche Geschlecht so zahlreich und mannichfach es sei,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/392>, abgerufen am 04.07.2024.