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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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die Laster seien gut und die Tugenden böse. Denn in zweifelhaften Dingen ist
die Kirche verpflichtet, sich bei dem Urtheilsspruch des obersten Priesters zu be¬
ruhigen und zu thun, was er vorschreibt, nicht zu thun, was er verbietet."

Der Katholicismus als politische Macht, als Ultramontanismus, beugt
die Geister in ihrem tiefsten Innern und begünstigt dadurch den Despotismus
im staatlichen Leben bis zu der angegebenen Grenze. Aber zunächst gilt dieß
nicht ohne Weiteres von der katholischen Kirche überhaupt. Wir selbst haben
gehört, wie Leute, wie Lamennais, Ventura, Lacordaire, Nosmini und Mon-
talembert eine Zeit lang mit dem Segen des vorigen und des jetzigen Papstes
den Bund des Katholicismus mit der Freiheit der Völker verkündigten.

Als Lamennais seine Absicht, die Kirche mit dem freien Staat zu ver-
öhnen, durch den berühmten Hirtenbrief Gregor's des Sechzehnten von 1832
vereitelt sah, konnte er sich auf Gregor den Siebenten als auf den Heros der
Volksfreiheit berufen, der Fürsten abgesetzt und ihre Unterthanen vom Eide
der Treue entbunden hat, ja der geradezu der Meinung war, daß "die Fürsten
vom Teufel angereizt, über Menschen ihres Gleichen aus blinder Gier und
unerträglicher Anmaßung zu herrschen trachteten."

Die Theorie der Volkssouveränetät und des "gesellschaftlichen Vertrags"
gilt gewöhnlich für eine Erfindung Rousseau's. Sie ist aber eine ziemlich alte
katholische Anschauung. In ihrer rohesten Gestalt, als Streitfrage über die
Berechtigung der Ermordung von Tyrannen, wurde sie bereits auf dem
Concil von Constanz verhandelt. Die heilige Versammlung sah sich durch
politische und persönliche Gründe verhindert, wenigstens über bestimmt vor¬
liegende Fälle ein Verdammungsurtheil auszusprechen, Die Bettelmönche
pflegten über die Meinung, ob Jedermann berechtigt sei, denjenigen, der sich
dem gewöhnlichen Nechtsgange entziehe, den Gewalthaber, den Fürsten, durch
Mord zu beseitigen, oder allgemein gefaßt, die Staatsordnung unter Um¬
ständen umzustürzen, Autoritäten für und wider anzuführen und zu dem
Schlüsse zu kommen, daß diese Berechtigung sich beweisen lasse.

Die Jesuiten sind dann weiter gegangen. Das Phantasma des
Mittelalters, daß der Papst die Sonne, der Kaiser nur der Mond der Welt
sei, setzte sich nach der Reformation in die Rechtstheorie um, daß Gott in
unmittelbarer Gründung des Papstthums dem heiligen Petrus und seinen
Nachfolgern die Regierung der Kirche übergeben habe, dem Fürsten die
weltlichen Dinge nur mittelbar durch das Volk. Auch die weltliche Obrigkeit,
so lehrte man, ist von Gott eingesetzt, aber Gott hat sie nicht einer be¬
stimmten Person übergeben, er hat nicht eine bestimmte Regierungsform ein¬
gesetzt, sondern diese geht aus dem Willen des Volkes hervor, welches daher
unter gewissen Verhältnissen ein Königreich auch in eine Aristokratie oder
Demokratie verwandeln kann. Der Unterschied von der modernen Doctrin
der Volkssouveränetät besteht nur darin, daß die katholische Theorie nicht


die Laster seien gut und die Tugenden böse. Denn in zweifelhaften Dingen ist
die Kirche verpflichtet, sich bei dem Urtheilsspruch des obersten Priesters zu be¬
ruhigen und zu thun, was er vorschreibt, nicht zu thun, was er verbietet."

Der Katholicismus als politische Macht, als Ultramontanismus, beugt
die Geister in ihrem tiefsten Innern und begünstigt dadurch den Despotismus
im staatlichen Leben bis zu der angegebenen Grenze. Aber zunächst gilt dieß
nicht ohne Weiteres von der katholischen Kirche überhaupt. Wir selbst haben
gehört, wie Leute, wie Lamennais, Ventura, Lacordaire, Nosmini und Mon-
talembert eine Zeit lang mit dem Segen des vorigen und des jetzigen Papstes
den Bund des Katholicismus mit der Freiheit der Völker verkündigten.

Als Lamennais seine Absicht, die Kirche mit dem freien Staat zu ver-
öhnen, durch den berühmten Hirtenbrief Gregor's des Sechzehnten von 1832
vereitelt sah, konnte er sich auf Gregor den Siebenten als auf den Heros der
Volksfreiheit berufen, der Fürsten abgesetzt und ihre Unterthanen vom Eide
der Treue entbunden hat, ja der geradezu der Meinung war, daß „die Fürsten
vom Teufel angereizt, über Menschen ihres Gleichen aus blinder Gier und
unerträglicher Anmaßung zu herrschen trachteten."

Die Theorie der Volkssouveränetät und des „gesellschaftlichen Vertrags"
gilt gewöhnlich für eine Erfindung Rousseau's. Sie ist aber eine ziemlich alte
katholische Anschauung. In ihrer rohesten Gestalt, als Streitfrage über die
Berechtigung der Ermordung von Tyrannen, wurde sie bereits auf dem
Concil von Constanz verhandelt. Die heilige Versammlung sah sich durch
politische und persönliche Gründe verhindert, wenigstens über bestimmt vor¬
liegende Fälle ein Verdammungsurtheil auszusprechen, Die Bettelmönche
pflegten über die Meinung, ob Jedermann berechtigt sei, denjenigen, der sich
dem gewöhnlichen Nechtsgange entziehe, den Gewalthaber, den Fürsten, durch
Mord zu beseitigen, oder allgemein gefaßt, die Staatsordnung unter Um¬
ständen umzustürzen, Autoritäten für und wider anzuführen und zu dem
Schlüsse zu kommen, daß diese Berechtigung sich beweisen lasse.

Die Jesuiten sind dann weiter gegangen. Das Phantasma des
Mittelalters, daß der Papst die Sonne, der Kaiser nur der Mond der Welt
sei, setzte sich nach der Reformation in die Rechtstheorie um, daß Gott in
unmittelbarer Gründung des Papstthums dem heiligen Petrus und seinen
Nachfolgern die Regierung der Kirche übergeben habe, dem Fürsten die
weltlichen Dinge nur mittelbar durch das Volk. Auch die weltliche Obrigkeit,
so lehrte man, ist von Gott eingesetzt, aber Gott hat sie nicht einer be¬
stimmten Person übergeben, er hat nicht eine bestimmte Regierungsform ein¬
gesetzt, sondern diese geht aus dem Willen des Volkes hervor, welches daher
unter gewissen Verhältnissen ein Königreich auch in eine Aristokratie oder
Demokratie verwandeln kann. Der Unterschied von der modernen Doctrin
der Volkssouveränetät besteht nur darin, daß die katholische Theorie nicht


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[0372] die Laster seien gut und die Tugenden böse. Denn in zweifelhaften Dingen ist die Kirche verpflichtet, sich bei dem Urtheilsspruch des obersten Priesters zu be¬ ruhigen und zu thun, was er vorschreibt, nicht zu thun, was er verbietet." Der Katholicismus als politische Macht, als Ultramontanismus, beugt die Geister in ihrem tiefsten Innern und begünstigt dadurch den Despotismus im staatlichen Leben bis zu der angegebenen Grenze. Aber zunächst gilt dieß nicht ohne Weiteres von der katholischen Kirche überhaupt. Wir selbst haben gehört, wie Leute, wie Lamennais, Ventura, Lacordaire, Nosmini und Mon- talembert eine Zeit lang mit dem Segen des vorigen und des jetzigen Papstes den Bund des Katholicismus mit der Freiheit der Völker verkündigten. Als Lamennais seine Absicht, die Kirche mit dem freien Staat zu ver- öhnen, durch den berühmten Hirtenbrief Gregor's des Sechzehnten von 1832 vereitelt sah, konnte er sich auf Gregor den Siebenten als auf den Heros der Volksfreiheit berufen, der Fürsten abgesetzt und ihre Unterthanen vom Eide der Treue entbunden hat, ja der geradezu der Meinung war, daß „die Fürsten vom Teufel angereizt, über Menschen ihres Gleichen aus blinder Gier und unerträglicher Anmaßung zu herrschen trachteten." Die Theorie der Volkssouveränetät und des „gesellschaftlichen Vertrags" gilt gewöhnlich für eine Erfindung Rousseau's. Sie ist aber eine ziemlich alte katholische Anschauung. In ihrer rohesten Gestalt, als Streitfrage über die Berechtigung der Ermordung von Tyrannen, wurde sie bereits auf dem Concil von Constanz verhandelt. Die heilige Versammlung sah sich durch politische und persönliche Gründe verhindert, wenigstens über bestimmt vor¬ liegende Fälle ein Verdammungsurtheil auszusprechen, Die Bettelmönche pflegten über die Meinung, ob Jedermann berechtigt sei, denjenigen, der sich dem gewöhnlichen Nechtsgange entziehe, den Gewalthaber, den Fürsten, durch Mord zu beseitigen, oder allgemein gefaßt, die Staatsordnung unter Um¬ ständen umzustürzen, Autoritäten für und wider anzuführen und zu dem Schlüsse zu kommen, daß diese Berechtigung sich beweisen lasse. Die Jesuiten sind dann weiter gegangen. Das Phantasma des Mittelalters, daß der Papst die Sonne, der Kaiser nur der Mond der Welt sei, setzte sich nach der Reformation in die Rechtstheorie um, daß Gott in unmittelbarer Gründung des Papstthums dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern die Regierung der Kirche übergeben habe, dem Fürsten die weltlichen Dinge nur mittelbar durch das Volk. Auch die weltliche Obrigkeit, so lehrte man, ist von Gott eingesetzt, aber Gott hat sie nicht einer be¬ stimmten Person übergeben, er hat nicht eine bestimmte Regierungsform ein¬ gesetzt, sondern diese geht aus dem Willen des Volkes hervor, welches daher unter gewissen Verhältnissen ein Königreich auch in eine Aristokratie oder Demokratie verwandeln kann. Der Unterschied von der modernen Doctrin der Volkssouveränetät besteht nur darin, daß die katholische Theorie nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/372>, abgerufen am 02.10.2024.