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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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englischen Parlamentarismus seinen Geist ganz erfüllt hatte. Und doch kam
er am Abende seines Lebens zu der Einsicht, daß die neuere Entwicklung
Englands seit der Reformbill, die gerade den constitutionellen Politikern auf
dem Continente als die Vollendung des englischen Verfassungsideales erscheint,
auf einen Abweg gerathen sei. Im Juli 18S8 formulirte er seine Ansicht
dahin, daß es seit der Reformbill im englischen Parlamente eine Partei gebe,
deren Ziel die Om n ipotenz desHauses der Gemeinen sei, eine Partei,
welche die Vernichtung der Theorie und Praxis der alten parlamentarischen
Verfassung beabsichtige und erstrebe. Die Omnipotenz des Unterhauses sei der
Umsturz selbst und der Tod der wahren alten Verfassung von England (tue
omnipotönev ok ein? Housv ot Lowinons is Jnvolution itseli ana Ü6!un to
dirs druf viel englisü Loustitutiou). Auf diesen Satz müßte sich eine neue
Partei erst bilden in England, eine Partei welche es der Regierung möglich
mache, durch das Gleichgewicht der drei Staatsfactoren und nicht blos nach
Gutdünken des Einen derselben zu handeln. Er schließt: "Ich verzweifle
nicht, aber unmuthig und bange kann es Einem werden, wenn man betrach¬
tet, welchen Ministern und welchem absurd usurpatorischen Hause der Gemeinen
Englands Schicksal gegenwärtig in die Hand gelegt ist. Es wird nicht
untergehen, aber es hat bereits an seiner früheren Weltstellung bedeutend ver¬
loren, und dieser Verlust kann in nächster Zeit noch größer werden."

Der Scharfblick Stockmar's ist durch die Ereignisse von 1858 bis 1871
glänzend bestätigt. Jeder unbefangene Beobachter der englischen Entwickelung
in unserer Gegenwart wird diese Sätze unterschreiben.

Wir haben einige Male Bunsen und Stockmar gegenüber gestellt. Zu
einer solchen Vergleichung ladet uns alles ein. Ein moderner Plutarch würde
diese beiden Lebensläufe in Parallele zu einander erzählen können. Und wie
urtheilt Bunsen, der ja den englischen Verhältnissen in ähnlicher Weise seine
Politische Richtung verdankt, über dies neuere England? Anfangs 18S3 hat
er sein Gutachten abgegeben. "Die allmählige Kräftigung des monarchischen
Elementes im Laufe der gegenwärtigen Regierung macht sich immer mehr
bemerklich. Der Thron gelangt mehr und mehr wieder zu voller Ausübung
seiner gesetzmäßigen Rechte. Seit Wilhelm III. ist nie ein Monarch so ein¬
flußreich und selbstständig gewesen, als es die Königin Viktoria nach einer
17jährigen Negierung geworden ist. Sie ist die erste, welche nichts weder zu
verbergen, noch von den Ministern für sich und das königliche Haus zu ver¬
langen hat. So steht sie dem aus der Aristokratie gebildeten Ministerium
viel freier gegenüber, als ihre hannöverischen Borgänger. . . . Die Monarchie
steht da, wie sie dastehen soll nach der englischen Verfassung, als Beschützerin
des aristokratischen sowohl, als des demokratischen Elementes. . . . Die uner¬
schütterliche Basis dieser steigenden Erstarkung des königlichen Ansehens liegt


englischen Parlamentarismus seinen Geist ganz erfüllt hatte. Und doch kam
er am Abende seines Lebens zu der Einsicht, daß die neuere Entwicklung
Englands seit der Reformbill, die gerade den constitutionellen Politikern auf
dem Continente als die Vollendung des englischen Verfassungsideales erscheint,
auf einen Abweg gerathen sei. Im Juli 18S8 formulirte er seine Ansicht
dahin, daß es seit der Reformbill im englischen Parlamente eine Partei gebe,
deren Ziel die Om n ipotenz desHauses der Gemeinen sei, eine Partei,
welche die Vernichtung der Theorie und Praxis der alten parlamentarischen
Verfassung beabsichtige und erstrebe. Die Omnipotenz des Unterhauses sei der
Umsturz selbst und der Tod der wahren alten Verfassung von England (tue
omnipotönev ok ein? Housv ot Lowinons is Jnvolution itseli ana Ü6!un to
dirs druf viel englisü Loustitutiou). Auf diesen Satz müßte sich eine neue
Partei erst bilden in England, eine Partei welche es der Regierung möglich
mache, durch das Gleichgewicht der drei Staatsfactoren und nicht blos nach
Gutdünken des Einen derselben zu handeln. Er schließt: „Ich verzweifle
nicht, aber unmuthig und bange kann es Einem werden, wenn man betrach¬
tet, welchen Ministern und welchem absurd usurpatorischen Hause der Gemeinen
Englands Schicksal gegenwärtig in die Hand gelegt ist. Es wird nicht
untergehen, aber es hat bereits an seiner früheren Weltstellung bedeutend ver¬
loren, und dieser Verlust kann in nächster Zeit noch größer werden."

Der Scharfblick Stockmar's ist durch die Ereignisse von 1858 bis 1871
glänzend bestätigt. Jeder unbefangene Beobachter der englischen Entwickelung
in unserer Gegenwart wird diese Sätze unterschreiben.

Wir haben einige Male Bunsen und Stockmar gegenüber gestellt. Zu
einer solchen Vergleichung ladet uns alles ein. Ein moderner Plutarch würde
diese beiden Lebensläufe in Parallele zu einander erzählen können. Und wie
urtheilt Bunsen, der ja den englischen Verhältnissen in ähnlicher Weise seine
Politische Richtung verdankt, über dies neuere England? Anfangs 18S3 hat
er sein Gutachten abgegeben. „Die allmählige Kräftigung des monarchischen
Elementes im Laufe der gegenwärtigen Regierung macht sich immer mehr
bemerklich. Der Thron gelangt mehr und mehr wieder zu voller Ausübung
seiner gesetzmäßigen Rechte. Seit Wilhelm III. ist nie ein Monarch so ein¬
flußreich und selbstständig gewesen, als es die Königin Viktoria nach einer
17jährigen Negierung geworden ist. Sie ist die erste, welche nichts weder zu
verbergen, noch von den Ministern für sich und das königliche Haus zu ver¬
langen hat. So steht sie dem aus der Aristokratie gebildeten Ministerium
viel freier gegenüber, als ihre hannöverischen Borgänger. . . . Die Monarchie
steht da, wie sie dastehen soll nach der englischen Verfassung, als Beschützerin
des aristokratischen sowohl, als des demokratischen Elementes. . . . Die uner¬
schütterliche Basis dieser steigenden Erstarkung des königlichen Ansehens liegt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/341>, abgerufen am 22.07.2024.