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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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begegnen, hatte er also nicht durchzumachen. Wer den Unterschied eines
sanguinischen, phantasiereichen und ungenauen Kopfes und eines nüchternen
verständigen, exacten Realisten erfassen will, muß die Berichte mit einander
vergleichen, welche Bunsen und Stockmar von einzelnen wichtigen Gesprächen
in ihren Denkwürdigkeiten uns hinterlassen haben. Bei Stockmar Erzählung
und Sprache präcis, knapp, mit scharfem Verständniß das wesentliche hervor¬
hebend -- bei Bunsen alles verschwommen, unsicher, unkritisch, so daß der
Leser häusig der Gefahr sich ausgesetzt sieht, den thatsächlichen Bericht mit
den subjektiven Empfindungen Bunsen's über diese Thatsachen durcheinander¬
gemengt zu empfangen!

Dem Erfurter Parlament gehörte Stockmar auch an, ohne große Hoff¬
nungen von demselben zu hegen. Darauf ist er dann wieder in seine alte
Stellung zum englischen Königshofe zurückgekehrt, bis er hochbetagt sich nach
Coburg zurückzog: die Muße seines Alters hat er in zufriedenen Stillleben
dort hingebracht. --

Seine Denkwürdigkeiten sind reich an Aufschlüssen über die deutsche, die
englische und die europäische Lage auch aus dem Jahrzehnte nach 1848.

Neue Thatsachen, neue Lichter für eine Geschichte der Zeit bringen sie
uns an mehreren Stellen. Es ist nicht möglich, hier das Einzelne zu er¬
wähnen. Der historische Kritiker wird hier die gute Information und das
besonnene Urtheil Stockmar's überall hochschätzen und auch da ihm Aner¬
kennung nicht versagen, wo sein Urtheil für ein befangenes und einseitiges
gelten muß. Es ist nicht zu vergessen, daß Stockmar zum englischen Hofe
die engsten Beziehungen hatte, -- der englische Standpunkt macht sich mehr
wie einmal geltend. Es ist auch nicht zu verkennen, daß am Maaße eng¬
lischer Verfassungszustande und englischer Politik vielfach seine Urtheile sich
gebildet haben, so z. B. beim Ausbruche des orientalischen Krieges. Ja, wir
meinen, in jenen Jahren, nach dem Fehlschlagen der deutschen Sache, für die
er so lebhaft sich interessirt hatte, sei er nicht mehr ganz ohne Verstimmung
über Preußen und Deutschland geblieben. Seine Urtheile über Preußens
Staatsmänner die seine deutschen Pläne ihm zerstört hatten, sind jetzt ein¬
seitiger geworden. Und der liberalistisch-englische Standpunkt, in welchen sich
vielfach auch die Interessen und die Neigungen der coburgisch-englischen
Herrscherfamilie verschlingen mochten, haben ihm zuletzt eine unbefangene
Würdigung Preußens sehr erschwert und fast völlig verdunkelt.

Für den Politiker und den politischen Beobachter unseres Jahrhunderts
sind die Bemerkungen, die sich durch seine Denkwürdigkeiten zerstreut finden,
von ganz unschätzbarem Werthe. Heben wir hier noch eines seiner reifsten
und bestdurchdachten Urtheile heraus. Wir sagten schon, daß er auf dem
Boden des liberalen England sich seine politischen Dogmen gebildet und vom


begegnen, hatte er also nicht durchzumachen. Wer den Unterschied eines
sanguinischen, phantasiereichen und ungenauen Kopfes und eines nüchternen
verständigen, exacten Realisten erfassen will, muß die Berichte mit einander
vergleichen, welche Bunsen und Stockmar von einzelnen wichtigen Gesprächen
in ihren Denkwürdigkeiten uns hinterlassen haben. Bei Stockmar Erzählung
und Sprache präcis, knapp, mit scharfem Verständniß das wesentliche hervor¬
hebend — bei Bunsen alles verschwommen, unsicher, unkritisch, so daß der
Leser häusig der Gefahr sich ausgesetzt sieht, den thatsächlichen Bericht mit
den subjektiven Empfindungen Bunsen's über diese Thatsachen durcheinander¬
gemengt zu empfangen!

Dem Erfurter Parlament gehörte Stockmar auch an, ohne große Hoff¬
nungen von demselben zu hegen. Darauf ist er dann wieder in seine alte
Stellung zum englischen Königshofe zurückgekehrt, bis er hochbetagt sich nach
Coburg zurückzog: die Muße seines Alters hat er in zufriedenen Stillleben
dort hingebracht. —

Seine Denkwürdigkeiten sind reich an Aufschlüssen über die deutsche, die
englische und die europäische Lage auch aus dem Jahrzehnte nach 1848.

Neue Thatsachen, neue Lichter für eine Geschichte der Zeit bringen sie
uns an mehreren Stellen. Es ist nicht möglich, hier das Einzelne zu er¬
wähnen. Der historische Kritiker wird hier die gute Information und das
besonnene Urtheil Stockmar's überall hochschätzen und auch da ihm Aner¬
kennung nicht versagen, wo sein Urtheil für ein befangenes und einseitiges
gelten muß. Es ist nicht zu vergessen, daß Stockmar zum englischen Hofe
die engsten Beziehungen hatte, — der englische Standpunkt macht sich mehr
wie einmal geltend. Es ist auch nicht zu verkennen, daß am Maaße eng¬
lischer Verfassungszustande und englischer Politik vielfach seine Urtheile sich
gebildet haben, so z. B. beim Ausbruche des orientalischen Krieges. Ja, wir
meinen, in jenen Jahren, nach dem Fehlschlagen der deutschen Sache, für die
er so lebhaft sich interessirt hatte, sei er nicht mehr ganz ohne Verstimmung
über Preußen und Deutschland geblieben. Seine Urtheile über Preußens
Staatsmänner die seine deutschen Pläne ihm zerstört hatten, sind jetzt ein¬
seitiger geworden. Und der liberalistisch-englische Standpunkt, in welchen sich
vielfach auch die Interessen und die Neigungen der coburgisch-englischen
Herrscherfamilie verschlingen mochten, haben ihm zuletzt eine unbefangene
Würdigung Preußens sehr erschwert und fast völlig verdunkelt.

Für den Politiker und den politischen Beobachter unseres Jahrhunderts
sind die Bemerkungen, die sich durch seine Denkwürdigkeiten zerstreut finden,
von ganz unschätzbarem Werthe. Heben wir hier noch eines seiner reifsten
und bestdurchdachten Urtheile heraus. Wir sagten schon, daß er auf dem
Boden des liberalen England sich seine politischen Dogmen gebildet und vom


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/340>, abgerufen am 22.07.2024.