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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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schnell in englische Verhältnisse ein; vorsichtig, zurückhaltend, beobachtend stand
er den englischen Dingen und Personen gegenüber. Zu einem richtigen Ur¬
theil über dieselben ist er bald gelangt. Als die Prinzessin Charlotte im
November 1817 gestorben, blieb er bei dem Prinzen, bald in der Stellung
des vertrauten Secretairs und Freundes.

Er hatte als solcher Gelegenheit, die leitenden Kreise englischer Staats¬
männer kennen zu lernen: er beobachtete gut und aufmerksam. Wir finden,
daß seine Urtheile überall die eines sichern und ruhigen Mannes sind, der
durch den Schein und das äußere Auftreten sich nicht leicht täuschen läßt,
der den Dingen auf den Grund zu sehen liebt und vor allem ein unab¬
hängiges, auf eigener Untersuchung und Beobachtung und Erwägung be¬
ruhendes Urtheil sich zu bilden versteht. Sein Auge haftete in England
nicht auf den insularen Dingen allein, die hohe Politik von Europa war
vielmehr das Objekt seiner Untersuchungen. Und so bildete er sich im Laufe
der Jahre eine ganz selbständige eigenartige Anschauung aus von der politischen
Lage der damaligen Welt, von ihren Bedürfnissen und dem wünschenswerthen
Gange der Dinge. Er lebte in England, er sah dem parlamentarischen
Wesen zu. Den damaligen Tones abgeneigt, auch persönlich wie sein Prinz
in Beziehungen zu der Opposition verflochten, wurde er ein warmer Anhänger
des liberalen Parlamentarismus: daß eine liberale constitutionelle Staats¬
einrichtung in den Culturstaaten des Continentes nöthig geworden, davon
war er durchdrungen, und ganz besonders in Preußen und Deutschland schien
diese Forderung ihm berechtigt zu sein. Gleichzeitig aber überzeugte er sich
damals auch schon von der UnHaltbarkeit der deutschen Bundesverhältnisse:
daß Preußen an die Spitze der deutschen Staaten treten, eine Leitung der
gemeinsamen deutschen Angelegenheiten an sich ziehen müsse, bildete ebenso
schon damals einen Theil seines politischen Glaubensbekenntnisses.

Wir erhalten aus jener Zeit des englischen Aufenthaltes am Hofe des
Prinzen Leopold einzelne sehr wichtige Aeußerungen von ihm. Irgend welchen
direkten Einfluß auf die englische Politik haben aber weder Prinz noch
Secretair damals gehabt. Als Prinz Leopold für die Krone des eben damals
befreiten und zu selbständigem Staate sich zusammenfassenden Griechenland in
Aussicht genommen wurde, als ihm die Frage gestellt wurde -- Ablehnen
oder Annehmen -- da war Stockmar nicht ganz mit dem Verhalten seines
Prinzen zufrieden. Wir sind der Ansicht, daß immer noch nicht jeder Punkt
in diesem räthselhaften Spiele um die griechische Krone aufgeklärt ist, --
neue Aufschlüsse bringen uns diese Papiere allerdings, aber nicht solche, welche
endgültig den Prinzen von dem Vorwurfe der Zweideutigkeit oder des Hin¬
haltens befreien -- wir sehen hier, daß Stockmar vollständig weder die erste
Annahme noch die folgenden Zweifel auf Seiten Leopold's gebilligt hat; wir


schnell in englische Verhältnisse ein; vorsichtig, zurückhaltend, beobachtend stand
er den englischen Dingen und Personen gegenüber. Zu einem richtigen Ur¬
theil über dieselben ist er bald gelangt. Als die Prinzessin Charlotte im
November 1817 gestorben, blieb er bei dem Prinzen, bald in der Stellung
des vertrauten Secretairs und Freundes.

Er hatte als solcher Gelegenheit, die leitenden Kreise englischer Staats¬
männer kennen zu lernen: er beobachtete gut und aufmerksam. Wir finden,
daß seine Urtheile überall die eines sichern und ruhigen Mannes sind, der
durch den Schein und das äußere Auftreten sich nicht leicht täuschen läßt,
der den Dingen auf den Grund zu sehen liebt und vor allem ein unab¬
hängiges, auf eigener Untersuchung und Beobachtung und Erwägung be¬
ruhendes Urtheil sich zu bilden versteht. Sein Auge haftete in England
nicht auf den insularen Dingen allein, die hohe Politik von Europa war
vielmehr das Objekt seiner Untersuchungen. Und so bildete er sich im Laufe
der Jahre eine ganz selbständige eigenartige Anschauung aus von der politischen
Lage der damaligen Welt, von ihren Bedürfnissen und dem wünschenswerthen
Gange der Dinge. Er lebte in England, er sah dem parlamentarischen
Wesen zu. Den damaligen Tones abgeneigt, auch persönlich wie sein Prinz
in Beziehungen zu der Opposition verflochten, wurde er ein warmer Anhänger
des liberalen Parlamentarismus: daß eine liberale constitutionelle Staats¬
einrichtung in den Culturstaaten des Continentes nöthig geworden, davon
war er durchdrungen, und ganz besonders in Preußen und Deutschland schien
diese Forderung ihm berechtigt zu sein. Gleichzeitig aber überzeugte er sich
damals auch schon von der UnHaltbarkeit der deutschen Bundesverhältnisse:
daß Preußen an die Spitze der deutschen Staaten treten, eine Leitung der
gemeinsamen deutschen Angelegenheiten an sich ziehen müsse, bildete ebenso
schon damals einen Theil seines politischen Glaubensbekenntnisses.

Wir erhalten aus jener Zeit des englischen Aufenthaltes am Hofe des
Prinzen Leopold einzelne sehr wichtige Aeußerungen von ihm. Irgend welchen
direkten Einfluß auf die englische Politik haben aber weder Prinz noch
Secretair damals gehabt. Als Prinz Leopold für die Krone des eben damals
befreiten und zu selbständigem Staate sich zusammenfassenden Griechenland in
Aussicht genommen wurde, als ihm die Frage gestellt wurde — Ablehnen
oder Annehmen — da war Stockmar nicht ganz mit dem Verhalten seines
Prinzen zufrieden. Wir sind der Ansicht, daß immer noch nicht jeder Punkt
in diesem räthselhaften Spiele um die griechische Krone aufgeklärt ist, —
neue Aufschlüsse bringen uns diese Papiere allerdings, aber nicht solche, welche
endgültig den Prinzen von dem Vorwurfe der Zweideutigkeit oder des Hin¬
haltens befreien — wir sehen hier, daß Stockmar vollständig weder die erste
Annahme noch die folgenden Zweifel auf Seiten Leopold's gebilligt hat; wir


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[0331] schnell in englische Verhältnisse ein; vorsichtig, zurückhaltend, beobachtend stand er den englischen Dingen und Personen gegenüber. Zu einem richtigen Ur¬ theil über dieselben ist er bald gelangt. Als die Prinzessin Charlotte im November 1817 gestorben, blieb er bei dem Prinzen, bald in der Stellung des vertrauten Secretairs und Freundes. Er hatte als solcher Gelegenheit, die leitenden Kreise englischer Staats¬ männer kennen zu lernen: er beobachtete gut und aufmerksam. Wir finden, daß seine Urtheile überall die eines sichern und ruhigen Mannes sind, der durch den Schein und das äußere Auftreten sich nicht leicht täuschen läßt, der den Dingen auf den Grund zu sehen liebt und vor allem ein unab¬ hängiges, auf eigener Untersuchung und Beobachtung und Erwägung be¬ ruhendes Urtheil sich zu bilden versteht. Sein Auge haftete in England nicht auf den insularen Dingen allein, die hohe Politik von Europa war vielmehr das Objekt seiner Untersuchungen. Und so bildete er sich im Laufe der Jahre eine ganz selbständige eigenartige Anschauung aus von der politischen Lage der damaligen Welt, von ihren Bedürfnissen und dem wünschenswerthen Gange der Dinge. Er lebte in England, er sah dem parlamentarischen Wesen zu. Den damaligen Tones abgeneigt, auch persönlich wie sein Prinz in Beziehungen zu der Opposition verflochten, wurde er ein warmer Anhänger des liberalen Parlamentarismus: daß eine liberale constitutionelle Staats¬ einrichtung in den Culturstaaten des Continentes nöthig geworden, davon war er durchdrungen, und ganz besonders in Preußen und Deutschland schien diese Forderung ihm berechtigt zu sein. Gleichzeitig aber überzeugte er sich damals auch schon von der UnHaltbarkeit der deutschen Bundesverhältnisse: daß Preußen an die Spitze der deutschen Staaten treten, eine Leitung der gemeinsamen deutschen Angelegenheiten an sich ziehen müsse, bildete ebenso schon damals einen Theil seines politischen Glaubensbekenntnisses. Wir erhalten aus jener Zeit des englischen Aufenthaltes am Hofe des Prinzen Leopold einzelne sehr wichtige Aeußerungen von ihm. Irgend welchen direkten Einfluß auf die englische Politik haben aber weder Prinz noch Secretair damals gehabt. Als Prinz Leopold für die Krone des eben damals befreiten und zu selbständigem Staate sich zusammenfassenden Griechenland in Aussicht genommen wurde, als ihm die Frage gestellt wurde — Ablehnen oder Annehmen — da war Stockmar nicht ganz mit dem Verhalten seines Prinzen zufrieden. Wir sind der Ansicht, daß immer noch nicht jeder Punkt in diesem räthselhaften Spiele um die griechische Krone aufgeklärt ist, — neue Aufschlüsse bringen uns diese Papiere allerdings, aber nicht solche, welche endgültig den Prinzen von dem Vorwurfe der Zweideutigkeit oder des Hin¬ haltens befreien — wir sehen hier, daß Stockmar vollständig weder die erste Annahme noch die folgenden Zweifel auf Seiten Leopold's gebilligt hat; wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/331>, abgerufen am 22.07.2024.