Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Invaliden-Cassenwesen ist in der Weise gesetzlich zu regeln, daß Norma¬
tivbestimmungen erlassen werden, welche namentlich die Verwaltung der ange¬
sammelten Gelder zu Strikes und agitatorischen Zwecken verhindern und eine
möglichst große Publicität der Verwaltung sichern. Im Uebrigen ist die Or¬
ganisation der Cassen den betheiligten Arbeitern zu überlassen."

Der nach Eras austretende Dr. A. Meyer von Berlin nahm denselben
Standpunct ein wie Dr. Wolfs. Er warnt vor einer zu schroffen Betonung
des Princips und der Doctrin; ein kleines Opfer auf dem Gebiete der kom¬
munalen Armenpflege dürfe man nicht scheuen, wo es sich darum handle, das
große Princip der Freizügigkeit zu retten. Es sei zu unterscheiden zwischen
Zwangscassen und Cassenzwang. Die ersten verwerfe auch er, dagegen wolle
er, daß der Arbeiter gesetzlich gehalten sei, einer öffentlich anerkannten gewerb¬
lichen Hülfscasse beizutreten, die unter gewisse Normativbedingungen gestellt
sei. Diese Cassen seien ein Zweig des Versicherungswesens. Die Versiche¬
rungsanstalten für den wirthschaftlich geschulten Theil der Nation seien vom
Staate controlirt, die für den wirthschaftlich weniger geschulten Theil des
Volkes würden in der laxesten Weise gehandhabt. Er wünsche im Princip,
daß der Arbeiter in voller Freiheit seine Existenz versichere; für den Fall wo
dieses nicht geschehe, wolle er subsidiarisch Versicherungszwang statuiren. Nicht
alle Gemeinden ließen sich in die Kategorien Danzig oder Elberfeld bringen;
es gebe auf dem Lande Fabriken, z. B. die Sodafabriken, welche die Gesund¬
heit der Arbeiter in 10 bis 12 Jahren angriffen, ohne daß die Besitzer dadurch
unterstützungspslichtig würden. Die kranken Arbeiter fielen den Gemeinden
zur Last; warum hier nicht Cassenzwang einführen? Die Prosperität der Ge-
werksvereinscassm beruhe zum großen Theil auf den "verfallenen Geldern"
derjenigen, die irgend einen Strike nicht mitmachten; der Unterstützungszweck
werde durch solche Cassen, die zugleich Strike-Zwecke verfolgten, nicht erreicht.
Ein Verbot solcher Cassen sei fruchtlos; es müsse ihnen aber das Recht der
juristischen Person versagt bleiben- Der Cassenzwang würde nur darin be¬
stehen, daß die Arbeiter gewisser Categorien gehalten seien, einer öffentlich
anerkannten, z. B. in das Handelsregister eingetragenen Casse beizutreten.
Der Angriff des Dr. Eras auf die Knappschaftscassen sei kein glücklicher ge¬
wesen; die schlesischen Cassen ständen durchaus in Ansehen und würden für
unentbehrlich gehalten; ihrer Ablösung durch Gewerkvereinseassen würde mit
großer Besorgniß entgegengesehen. Die Vergleichung des Cassenzwangs mit
einem gemäßigten Einzugsgeld sei nicht glücklicher; das letztere würde
ganz unwirtschaftlich ohne Gegenleistung dargebracht, der Cassenzwang
hingegen nöthige zu einer durchaus verständigen Handlung, die der Arbeiter
eigentlich aus eigener Einsicht vollbringen solle. Eine solche Bevormundung
trete ja auch in andern ausnahmsweisen Fällen ein, z. B. beim Verschwender.


und Invaliden-Cassenwesen ist in der Weise gesetzlich zu regeln, daß Norma¬
tivbestimmungen erlassen werden, welche namentlich die Verwaltung der ange¬
sammelten Gelder zu Strikes und agitatorischen Zwecken verhindern und eine
möglichst große Publicität der Verwaltung sichern. Im Uebrigen ist die Or¬
ganisation der Cassen den betheiligten Arbeitern zu überlassen."

Der nach Eras austretende Dr. A. Meyer von Berlin nahm denselben
Standpunct ein wie Dr. Wolfs. Er warnt vor einer zu schroffen Betonung
des Princips und der Doctrin; ein kleines Opfer auf dem Gebiete der kom¬
munalen Armenpflege dürfe man nicht scheuen, wo es sich darum handle, das
große Princip der Freizügigkeit zu retten. Es sei zu unterscheiden zwischen
Zwangscassen und Cassenzwang. Die ersten verwerfe auch er, dagegen wolle
er, daß der Arbeiter gesetzlich gehalten sei, einer öffentlich anerkannten gewerb¬
lichen Hülfscasse beizutreten, die unter gewisse Normativbedingungen gestellt
sei. Diese Cassen seien ein Zweig des Versicherungswesens. Die Versiche¬
rungsanstalten für den wirthschaftlich geschulten Theil der Nation seien vom
Staate controlirt, die für den wirthschaftlich weniger geschulten Theil des
Volkes würden in der laxesten Weise gehandhabt. Er wünsche im Princip,
daß der Arbeiter in voller Freiheit seine Existenz versichere; für den Fall wo
dieses nicht geschehe, wolle er subsidiarisch Versicherungszwang statuiren. Nicht
alle Gemeinden ließen sich in die Kategorien Danzig oder Elberfeld bringen;
es gebe auf dem Lande Fabriken, z. B. die Sodafabriken, welche die Gesund¬
heit der Arbeiter in 10 bis 12 Jahren angriffen, ohne daß die Besitzer dadurch
unterstützungspslichtig würden. Die kranken Arbeiter fielen den Gemeinden
zur Last; warum hier nicht Cassenzwang einführen? Die Prosperität der Ge-
werksvereinscassm beruhe zum großen Theil auf den „verfallenen Geldern"
derjenigen, die irgend einen Strike nicht mitmachten; der Unterstützungszweck
werde durch solche Cassen, die zugleich Strike-Zwecke verfolgten, nicht erreicht.
Ein Verbot solcher Cassen sei fruchtlos; es müsse ihnen aber das Recht der
juristischen Person versagt bleiben- Der Cassenzwang würde nur darin be¬
stehen, daß die Arbeiter gewisser Categorien gehalten seien, einer öffentlich
anerkannten, z. B. in das Handelsregister eingetragenen Casse beizutreten.
Der Angriff des Dr. Eras auf die Knappschaftscassen sei kein glücklicher ge¬
wesen; die schlesischen Cassen ständen durchaus in Ansehen und würden für
unentbehrlich gehalten; ihrer Ablösung durch Gewerkvereinseassen würde mit
großer Besorgniß entgegengesehen. Die Vergleichung des Cassenzwangs mit
einem gemäßigten Einzugsgeld sei nicht glücklicher; das letztere würde
ganz unwirtschaftlich ohne Gegenleistung dargebracht, der Cassenzwang
hingegen nöthige zu einer durchaus verständigen Handlung, die der Arbeiter
eigentlich aus eigener Einsicht vollbringen solle. Eine solche Bevormundung
trete ja auch in andern ausnahmsweisen Fällen ein, z. B. beim Verschwender.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128486"/>
          <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> und Invaliden-Cassenwesen ist in der Weise gesetzlich zu regeln, daß Norma¬<lb/>
tivbestimmungen erlassen werden, welche namentlich die Verwaltung der ange¬<lb/>
sammelten Gelder zu Strikes und agitatorischen Zwecken verhindern und eine<lb/>
möglichst große Publicität der Verwaltung sichern. Im Uebrigen ist die Or¬<lb/>
ganisation der Cassen den betheiligten Arbeitern zu überlassen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_62" next="#ID_63"> Der nach Eras austretende Dr. A. Meyer von Berlin nahm denselben<lb/>
Standpunct ein wie Dr. Wolfs. Er warnt vor einer zu schroffen Betonung<lb/>
des Princips und der Doctrin; ein kleines Opfer auf dem Gebiete der kom¬<lb/>
munalen Armenpflege dürfe man nicht scheuen, wo es sich darum handle, das<lb/>
große Princip der Freizügigkeit zu retten. Es sei zu unterscheiden zwischen<lb/>
Zwangscassen und Cassenzwang. Die ersten verwerfe auch er, dagegen wolle<lb/>
er, daß der Arbeiter gesetzlich gehalten sei, einer öffentlich anerkannten gewerb¬<lb/>
lichen Hülfscasse beizutreten, die unter gewisse Normativbedingungen gestellt<lb/>
sei. Diese Cassen seien ein Zweig des Versicherungswesens. Die Versiche¬<lb/>
rungsanstalten für den wirthschaftlich geschulten Theil der Nation seien vom<lb/>
Staate controlirt, die für den wirthschaftlich weniger geschulten Theil des<lb/>
Volkes würden in der laxesten Weise gehandhabt. Er wünsche im Princip,<lb/>
daß der Arbeiter in voller Freiheit seine Existenz versichere; für den Fall wo<lb/>
dieses nicht geschehe, wolle er subsidiarisch Versicherungszwang statuiren. Nicht<lb/>
alle Gemeinden ließen sich in die Kategorien Danzig oder Elberfeld bringen;<lb/>
es gebe auf dem Lande Fabriken, z. B. die Sodafabriken, welche die Gesund¬<lb/>
heit der Arbeiter in 10 bis 12 Jahren angriffen, ohne daß die Besitzer dadurch<lb/>
unterstützungspslichtig würden. Die kranken Arbeiter fielen den Gemeinden<lb/>
zur Last; warum hier nicht Cassenzwang einführen? Die Prosperität der Ge-<lb/>
werksvereinscassm beruhe zum großen Theil auf den &#x201E;verfallenen Geldern"<lb/>
derjenigen, die irgend einen Strike nicht mitmachten; der Unterstützungszweck<lb/>
werde durch solche Cassen, die zugleich Strike-Zwecke verfolgten, nicht erreicht.<lb/>
Ein Verbot solcher Cassen sei fruchtlos; es müsse ihnen aber das Recht der<lb/>
juristischen Person versagt bleiben- Der Cassenzwang würde nur darin be¬<lb/>
stehen, daß die Arbeiter gewisser Categorien gehalten seien, einer öffentlich<lb/>
anerkannten, z. B. in das Handelsregister eingetragenen Casse beizutreten.<lb/>
Der Angriff des Dr. Eras auf die Knappschaftscassen sei kein glücklicher ge¬<lb/>
wesen; die schlesischen Cassen ständen durchaus in Ansehen und würden für<lb/>
unentbehrlich gehalten; ihrer Ablösung durch Gewerkvereinseassen würde mit<lb/>
großer Besorgniß entgegengesehen. Die Vergleichung des Cassenzwangs mit<lb/>
einem gemäßigten Einzugsgeld sei nicht glücklicher; das letztere würde<lb/>
ganz unwirtschaftlich ohne Gegenleistung dargebracht, der Cassenzwang<lb/>
hingegen nöthige zu einer durchaus verständigen Handlung, die der Arbeiter<lb/>
eigentlich aus eigener Einsicht vollbringen solle. Eine solche Bevormundung<lb/>
trete ja auch in andern ausnahmsweisen Fällen ein, z. B. beim Verschwender.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] und Invaliden-Cassenwesen ist in der Weise gesetzlich zu regeln, daß Norma¬ tivbestimmungen erlassen werden, welche namentlich die Verwaltung der ange¬ sammelten Gelder zu Strikes und agitatorischen Zwecken verhindern und eine möglichst große Publicität der Verwaltung sichern. Im Uebrigen ist die Or¬ ganisation der Cassen den betheiligten Arbeitern zu überlassen." Der nach Eras austretende Dr. A. Meyer von Berlin nahm denselben Standpunct ein wie Dr. Wolfs. Er warnt vor einer zu schroffen Betonung des Princips und der Doctrin; ein kleines Opfer auf dem Gebiete der kom¬ munalen Armenpflege dürfe man nicht scheuen, wo es sich darum handle, das große Princip der Freizügigkeit zu retten. Es sei zu unterscheiden zwischen Zwangscassen und Cassenzwang. Die ersten verwerfe auch er, dagegen wolle er, daß der Arbeiter gesetzlich gehalten sei, einer öffentlich anerkannten gewerb¬ lichen Hülfscasse beizutreten, die unter gewisse Normativbedingungen gestellt sei. Diese Cassen seien ein Zweig des Versicherungswesens. Die Versiche¬ rungsanstalten für den wirthschaftlich geschulten Theil der Nation seien vom Staate controlirt, die für den wirthschaftlich weniger geschulten Theil des Volkes würden in der laxesten Weise gehandhabt. Er wünsche im Princip, daß der Arbeiter in voller Freiheit seine Existenz versichere; für den Fall wo dieses nicht geschehe, wolle er subsidiarisch Versicherungszwang statuiren. Nicht alle Gemeinden ließen sich in die Kategorien Danzig oder Elberfeld bringen; es gebe auf dem Lande Fabriken, z. B. die Sodafabriken, welche die Gesund¬ heit der Arbeiter in 10 bis 12 Jahren angriffen, ohne daß die Besitzer dadurch unterstützungspslichtig würden. Die kranken Arbeiter fielen den Gemeinden zur Last; warum hier nicht Cassenzwang einführen? Die Prosperität der Ge- werksvereinscassm beruhe zum großen Theil auf den „verfallenen Geldern" derjenigen, die irgend einen Strike nicht mitmachten; der Unterstützungszweck werde durch solche Cassen, die zugleich Strike-Zwecke verfolgten, nicht erreicht. Ein Verbot solcher Cassen sei fruchtlos; es müsse ihnen aber das Recht der juristischen Person versagt bleiben- Der Cassenzwang würde nur darin be¬ stehen, daß die Arbeiter gewisser Categorien gehalten seien, einer öffentlich anerkannten, z. B. in das Handelsregister eingetragenen Casse beizutreten. Der Angriff des Dr. Eras auf die Knappschaftscassen sei kein glücklicher ge¬ wesen; die schlesischen Cassen ständen durchaus in Ansehen und würden für unentbehrlich gehalten; ihrer Ablösung durch Gewerkvereinseassen würde mit großer Besorgniß entgegengesehen. Die Vergleichung des Cassenzwangs mit einem gemäßigten Einzugsgeld sei nicht glücklicher; das letztere würde ganz unwirtschaftlich ohne Gegenleistung dargebracht, der Cassenzwang hingegen nöthige zu einer durchaus verständigen Handlung, die der Arbeiter eigentlich aus eigener Einsicht vollbringen solle. Eine solche Bevormundung trete ja auch in andern ausnahmsweisen Fällen ein, z. B. beim Verschwender.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/32>, abgerufen am 22.07.2024.