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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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auch bei sehr entschiedener, eigner subjectiver Parteinahme die Motivirung
aller Parteien, auch der gegnerischen, aufzufassen und zum Verständniß zu er¬
heben. Soweit gehen wir freilich nicht, daß wir dem Historiker, der alle
Lagen menschlicher Verhältnisse sich zum Verständniß zu bringen hat, als
Richtschnur den Spruch aufstellen wollten: eompreuclre Wut, e'est MrÄonner
Wut; -- aber das verlangen wir von ihm, daß er von jeder Seite Personen
und Zustände und Ereignisse sich einmal ansehe und so zu einem möglichst
allseitigen, d. h, möglichst objectiven Verständniß und Urtheil gelange. Die
Objectivität des Historikers besteht nach unserer Ueberzeugung nicht in der
Farblosigkeit oder Unentschiedenst seines Urtheiles, sie besteht in der all¬
seitigen Betrachtung und Beleuchtung des historischen Objectes. Und niemals
hat ein Historiker noch sich dem Ideale dieser universalhistorischen Objectivität
so weit genähert, als es Ranke zu Theil geworden ist. Welchen Theil der
neueren Geschichte er auch gerade behandeln mag, er steht immer auf der
Hohe, von der er Alles, Großes wie Kleines, überschaut. Das Größenver¬
hältniß der Hügel und Berge, der Lauf der Bäche und Flüsse, die Abstu¬
fungen der Cultur in der Landschaft; -- alles das ist von seinem Stand¬
punkte aus in dem richtigen Verhältnisse sichtbar. Der Ueberblick über das
Ganze ist ihm gegeben.

Wohl wissen wir, daß weit verbreitet die Ansicht vorgefunden werden
kann, Ranke's Objectivität bestehe in dem Mangel oder der Zurückhaltung
eines eigenen Urtheiles. Wir streiten nicht mit denjenigen, die diese Ansicht
aussprechen. Wir sind überzeugt davon, daß nur die Unkenntniß Ranke'scher
Werke, die Unwissenheit, die sich im Scheine großen Wissens bläht, oder ten¬
denziöse Berläumdung und absichtliche Bosheit die Quellen solchen Urtheiles
sind: mit beiden zu streiten wäre vergeblich.

Das letzte Jahr hat noch eine zweite Frucht Ranke'scher Studien ge¬
zeitigt. 1871 erschien noch "Der Ursprung des siebenjährigen
Krieges. Leipzig, Duncker und Humblot." An die frühere preußische Ge¬
schichte, die bis zum Jahre 1756 reichte, schließt sich dies Buch unmittelbar
an. In dem großen Jahre 1870 in dem alle Herzen von den gewaltigen
Erschütterungen des deutschen Krieges erregt waren, vermochte auch der alte
Herr in Berlin nicht bei seinen sonstigen Studien sich zu beruhigen. Er nahm
eine ältere Abhandlung wieder vor, welche einer der Begebenheiten gewidmet
war, die diesen Zusammenstoß Frankreichs und Deutschlands vorbereitet
hatten. Als einen Tribut brachte er die umgearbeitete und vervollkommnete
Studie früherer Tage jetzt den großen Ereignissen und Handlungen des letzten
Jahres dar. Die Forschung der letzten Jahre hatte das Dunkel schon ge¬
lichtet, in dem lange Zeit der Ursprung des 7jährigen Krieges begraben war.


auch bei sehr entschiedener, eigner subjectiver Parteinahme die Motivirung
aller Parteien, auch der gegnerischen, aufzufassen und zum Verständniß zu er¬
heben. Soweit gehen wir freilich nicht, daß wir dem Historiker, der alle
Lagen menschlicher Verhältnisse sich zum Verständniß zu bringen hat, als
Richtschnur den Spruch aufstellen wollten: eompreuclre Wut, e'est MrÄonner
Wut; — aber das verlangen wir von ihm, daß er von jeder Seite Personen
und Zustände und Ereignisse sich einmal ansehe und so zu einem möglichst
allseitigen, d. h, möglichst objectiven Verständniß und Urtheil gelange. Die
Objectivität des Historikers besteht nach unserer Ueberzeugung nicht in der
Farblosigkeit oder Unentschiedenst seines Urtheiles, sie besteht in der all¬
seitigen Betrachtung und Beleuchtung des historischen Objectes. Und niemals
hat ein Historiker noch sich dem Ideale dieser universalhistorischen Objectivität
so weit genähert, als es Ranke zu Theil geworden ist. Welchen Theil der
neueren Geschichte er auch gerade behandeln mag, er steht immer auf der
Hohe, von der er Alles, Großes wie Kleines, überschaut. Das Größenver¬
hältniß der Hügel und Berge, der Lauf der Bäche und Flüsse, die Abstu¬
fungen der Cultur in der Landschaft; — alles das ist von seinem Stand¬
punkte aus in dem richtigen Verhältnisse sichtbar. Der Ueberblick über das
Ganze ist ihm gegeben.

Wohl wissen wir, daß weit verbreitet die Ansicht vorgefunden werden
kann, Ranke's Objectivität bestehe in dem Mangel oder der Zurückhaltung
eines eigenen Urtheiles. Wir streiten nicht mit denjenigen, die diese Ansicht
aussprechen. Wir sind überzeugt davon, daß nur die Unkenntniß Ranke'scher
Werke, die Unwissenheit, die sich im Scheine großen Wissens bläht, oder ten¬
denziöse Berläumdung und absichtliche Bosheit die Quellen solchen Urtheiles
sind: mit beiden zu streiten wäre vergeblich.

Das letzte Jahr hat noch eine zweite Frucht Ranke'scher Studien ge¬
zeitigt. 1871 erschien noch „Der Ursprung des siebenjährigen
Krieges. Leipzig, Duncker und Humblot." An die frühere preußische Ge¬
schichte, die bis zum Jahre 1756 reichte, schließt sich dies Buch unmittelbar
an. In dem großen Jahre 1870 in dem alle Herzen von den gewaltigen
Erschütterungen des deutschen Krieges erregt waren, vermochte auch der alte
Herr in Berlin nicht bei seinen sonstigen Studien sich zu beruhigen. Er nahm
eine ältere Abhandlung wieder vor, welche einer der Begebenheiten gewidmet
war, die diesen Zusammenstoß Frankreichs und Deutschlands vorbereitet
hatten. Als einen Tribut brachte er die umgearbeitete und vervollkommnete
Studie früherer Tage jetzt den großen Ereignissen und Handlungen des letzten
Jahres dar. Die Forschung der letzten Jahre hatte das Dunkel schon ge¬
lichtet, in dem lange Zeit der Ursprung des 7jährigen Krieges begraben war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/318>, abgerufen am 22.07.2024.