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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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obligatorischen Characters entkleiden. Den Conflict mildern heiße ihn nicht
aufheben-, consequent sei allein, wer die Zwangsarmenpflege durch die frei¬
willige ersetze, er seinerseits freilich halte dies für unmöglich. Selbst der hart¬
herzigste Mensch wolle doch nicht Leute, wenn auch aus eigenem Verschulden,
neben sich verhungern sehen. Nun gebe es Nothstände, die der Staat um
seiner Existenz wegen fernhalten müsse. Bestände keine gesetzliche Pflicht zur
Armenpflege, fo würde die Staatsgewalt leicht in excentrische Bahnen und
zu communistischen Maßregeln gedrängt werden können. So lange aber auch
nur ein Rest von Zwangsarmenpflege bestehe, seien Conflicte derselben mit
der Freizügigkeit nicht unmöglich. Obwohl er die Arbeiterbewegung nicht so
harmlos auffasse, fürchte er dieselbe doch nicht so sehr wie die Thorheiten der
Kapitalisten. Die Schwärmerei derselben für die idyllischen Zustände vollster-
Verkehrsfreiheit sei bereits zu Ende. Bis wir zu den gesegneten Zuständen
der bessern Zukunft gelangten, komme eben eine sehr unbehagliche Zwischen¬
zeit. Dieselbe Bourgeoisie, der Johann Jacoby nicht links genug saß, sei
jetzt bereit, die ganzen wirthschaftlichen Freiheiten zum Fenster hinauszuwerfen,
weil der Hauswirth die Miethe steigere, weil die Louis-Wirthschaft lästig sei,
weil der Thiergarten stinke ze. ze. Nun trete der Berliner Magistrat auf und
verlange einen Eingriff in die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, diese Grund¬
lagen des deutschen Reiches. Die Möglichkeit eines Conflicts zwischen diesen
Grundfreiheiten und der communalen Armenpflege sei nicht zu leugnen. Würden
nun zur Milderung des Conflicts Zwcmgshülfscassen eingerichtet, so sei es
eine fehlerhafte Auffassung, darin einen Eingriff in die wirthschaftliche Frei¬
heit zu erblicken, denn dann würde jede Steuerzahlung, mit der man nicht
einverstanden, ein solcher Eingriff. Wer die Vertheilung der Lasten, die ein
Correlat gewisser wirthschaftlicher Freiheiten seien, für falsch halte und vor
der Commune noch erst andere Kreise zu ihrer Tragung heranziehen wolle,
der verlange keinen Eingriff in die wirthschaftliche Freiheit. Vor der Com¬
mune seien die großen Fabrikunternehmer heranzuziehen und womöglich in einer
Weise, die frei sei von den Schattenseiten der Zwangsarmenpflege der Com¬
munen und die betreffenden Institute zu wirthschaftlichen Erziehungsanstalten
für die Arbeiter erhebe. Er erblicke in den Zwangscassen eine wirthschaftlich
richtige Vertheilung der Armenlast. Der Einwand, daß man nicht einzelne
Classen der Bevölkerung herausgreifen dürfe, beseitige sich d"res die Erwieder¬
ung, daß man zunächst den greife, den man fassen könne. Die Knappschafts-
casse für die Bergarbeiter hätte sich so ziemlich bewährt. Noch besser sei für
die ländlichen Arbeiter gesorgt, welche in einer Art Productivgenossenschaft
mit den Grundbesitzern leben. Die Dienstboten seien bei ihren Herrschaften
versichert. Ob nach Aufhebung der Innungen, Cassen, wie er sie sich denke,
für die Gesellen durchführbar seien, möge dahin gestellt bleiben. Er würde


obligatorischen Characters entkleiden. Den Conflict mildern heiße ihn nicht
aufheben-, consequent sei allein, wer die Zwangsarmenpflege durch die frei¬
willige ersetze, er seinerseits freilich halte dies für unmöglich. Selbst der hart¬
herzigste Mensch wolle doch nicht Leute, wenn auch aus eigenem Verschulden,
neben sich verhungern sehen. Nun gebe es Nothstände, die der Staat um
seiner Existenz wegen fernhalten müsse. Bestände keine gesetzliche Pflicht zur
Armenpflege, fo würde die Staatsgewalt leicht in excentrische Bahnen und
zu communistischen Maßregeln gedrängt werden können. So lange aber auch
nur ein Rest von Zwangsarmenpflege bestehe, seien Conflicte derselben mit
der Freizügigkeit nicht unmöglich. Obwohl er die Arbeiterbewegung nicht so
harmlos auffasse, fürchte er dieselbe doch nicht so sehr wie die Thorheiten der
Kapitalisten. Die Schwärmerei derselben für die idyllischen Zustände vollster-
Verkehrsfreiheit sei bereits zu Ende. Bis wir zu den gesegneten Zuständen
der bessern Zukunft gelangten, komme eben eine sehr unbehagliche Zwischen¬
zeit. Dieselbe Bourgeoisie, der Johann Jacoby nicht links genug saß, sei
jetzt bereit, die ganzen wirthschaftlichen Freiheiten zum Fenster hinauszuwerfen,
weil der Hauswirth die Miethe steigere, weil die Louis-Wirthschaft lästig sei,
weil der Thiergarten stinke ze. ze. Nun trete der Berliner Magistrat auf und
verlange einen Eingriff in die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, diese Grund¬
lagen des deutschen Reiches. Die Möglichkeit eines Conflicts zwischen diesen
Grundfreiheiten und der communalen Armenpflege sei nicht zu leugnen. Würden
nun zur Milderung des Conflicts Zwcmgshülfscassen eingerichtet, so sei es
eine fehlerhafte Auffassung, darin einen Eingriff in die wirthschaftliche Frei¬
heit zu erblicken, denn dann würde jede Steuerzahlung, mit der man nicht
einverstanden, ein solcher Eingriff. Wer die Vertheilung der Lasten, die ein
Correlat gewisser wirthschaftlicher Freiheiten seien, für falsch halte und vor
der Commune noch erst andere Kreise zu ihrer Tragung heranziehen wolle,
der verlange keinen Eingriff in die wirthschaftliche Freiheit. Vor der Com¬
mune seien die großen Fabrikunternehmer heranzuziehen und womöglich in einer
Weise, die frei sei von den Schattenseiten der Zwangsarmenpflege der Com¬
munen und die betreffenden Institute zu wirthschaftlichen Erziehungsanstalten
für die Arbeiter erhebe. Er erblicke in den Zwangscassen eine wirthschaftlich
richtige Vertheilung der Armenlast. Der Einwand, daß man nicht einzelne
Classen der Bevölkerung herausgreifen dürfe, beseitige sich d«res die Erwieder¬
ung, daß man zunächst den greife, den man fassen könne. Die Knappschafts-
casse für die Bergarbeiter hätte sich so ziemlich bewährt. Noch besser sei für
die ländlichen Arbeiter gesorgt, welche in einer Art Productivgenossenschaft
mit den Grundbesitzern leben. Die Dienstboten seien bei ihren Herrschaften
versichert. Ob nach Aufhebung der Innungen, Cassen, wie er sie sich denke,
für die Gesellen durchführbar seien, möge dahin gestellt bleiben. Er würde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/30>, abgerufen am 22.07.2024.