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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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der Hülfscassen der Arbeiter kräftig annehmen und Zuschüsse nach einem an¬
gemessenen Maßstabe leisten, um namentlich auch solchen Personen, welche eine
Versicherungsanstalt gewöhnlicher Art entweder gar nicht oder nur zu un¬
verhältnismäßig hohen Prämien aufnehmen würden, die Möglichkeit der Be¬
theiligung zu verschaffen. Ferner müsse das gesammte Publieum ein Inter¬
esse daran nehmen. Gemeinnützige Männer müßten den Arbeitern mit Rath
und That zur Seite stehen, um sie vor Schaden zu bewahren.

Nach diesen Ausführungen der beiden Referenten constatirte ein Arbeiter
Benkmann aus Danzig, als Bevollmächtigter für den Verband der deutschen
Gewerkvereine, das Verlangen der Arbeiter, daß der Beitrittszwang zu den
gewerblichen Hülfscassen aufgehoben werde. Die Gewerkvereine hätten bereits
vor zwei Jahren beim Reichstage um Aufhebung des Zwanges petitionirt.
Der leise Zwang, den die deutsche Gewerbeordnung noch ausspreche, wonach
der Arbeiter mindestens einer Casse angehören müsse, könnte den Gewerk¬
vereinen bei eigennütziger Tendenz schon erwünscht sein, weil er ihnen Arbeiter
in Masse zuführe, aber die Gewerkvereine wollten im individuellen Interesse
des Arbeiters volle Freiheit. Die freien Cassen der Gewerkvereine sicherten
den Arbeiter bei Veränderung seines Wohnsitzes gegen Verlust, da die Mit¬
gliedschaft nicht von dem Wohnsitze bedingt sei, sie gewöhnen ihn an Selbst¬
verwaltung und machen ihn zu einem seiner Selbstverantwortlichkeit bewußten
Staatsbürger, während der Arbeiter durch eine ihm angewiesene Ausnahms-
stellung gedrückt werde und in seinen eigenen Augen entwürdigt erscheine.
Die bestehenden freien Cassen der Arbeiter seien noch mangelhaft, die Statuten
würden aber an der Hand der Erfahrung verbessert werden. Die Mangel-
haftigkeit der Statuten liege zum Theil in der Mangelhaftigkeit der Arbeiter¬
statistik. Vorläufig würden vier, durch plötzliches Unglück invalid gewordene
Arbeiter mit je 2 Thaler wöchentlich unterstützt. In dieser Thatsache liege
doch schon ein Fortschritt gegen früher. Der Arbeiter, der sich nicht versichere,
möge die Folgen tragen und ins Arbeitshaus verwiesen werden; man möge
dann aber auch das Streben der Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, denselben
nicht als Verbrechen anrechnen und mit denselben lieber sich gütlich ausgleichen,
als wie hier jetzt in Danzig zuvor erst sehen, wie weit die Kräfte derselben reichen.

Den ebenmitgetheilten Argumenten für die Freiheit des Hülfscassenwesens
trat zunächst Otto Wolff aus Stettin entgegen, der in den Zwangs-
hülfscassen ein Mittel erblickte, um die bereits so vielfach angefochtene und
manchen Gemeinden unbequem werdende Freizügigkeit zu retten. Er bemerkte,
daß der Referent Rickert einen etwaigen Conflict zwischen der Armenunter¬
stützungspflicht zwischen den Gemeinden und der Freizügigkeit durch eine Reform
der Armenpflege beseitigen wolle, doch reiche es nicht aus, die Armen ins
Armenhaus zu schicken, man müsse dann die Armenpflege überhaupt ihres


der Hülfscassen der Arbeiter kräftig annehmen und Zuschüsse nach einem an¬
gemessenen Maßstabe leisten, um namentlich auch solchen Personen, welche eine
Versicherungsanstalt gewöhnlicher Art entweder gar nicht oder nur zu un¬
verhältnismäßig hohen Prämien aufnehmen würden, die Möglichkeit der Be¬
theiligung zu verschaffen. Ferner müsse das gesammte Publieum ein Inter¬
esse daran nehmen. Gemeinnützige Männer müßten den Arbeitern mit Rath
und That zur Seite stehen, um sie vor Schaden zu bewahren.

Nach diesen Ausführungen der beiden Referenten constatirte ein Arbeiter
Benkmann aus Danzig, als Bevollmächtigter für den Verband der deutschen
Gewerkvereine, das Verlangen der Arbeiter, daß der Beitrittszwang zu den
gewerblichen Hülfscassen aufgehoben werde. Die Gewerkvereine hätten bereits
vor zwei Jahren beim Reichstage um Aufhebung des Zwanges petitionirt.
Der leise Zwang, den die deutsche Gewerbeordnung noch ausspreche, wonach
der Arbeiter mindestens einer Casse angehören müsse, könnte den Gewerk¬
vereinen bei eigennütziger Tendenz schon erwünscht sein, weil er ihnen Arbeiter
in Masse zuführe, aber die Gewerkvereine wollten im individuellen Interesse
des Arbeiters volle Freiheit. Die freien Cassen der Gewerkvereine sicherten
den Arbeiter bei Veränderung seines Wohnsitzes gegen Verlust, da die Mit¬
gliedschaft nicht von dem Wohnsitze bedingt sei, sie gewöhnen ihn an Selbst¬
verwaltung und machen ihn zu einem seiner Selbstverantwortlichkeit bewußten
Staatsbürger, während der Arbeiter durch eine ihm angewiesene Ausnahms-
stellung gedrückt werde und in seinen eigenen Augen entwürdigt erscheine.
Die bestehenden freien Cassen der Arbeiter seien noch mangelhaft, die Statuten
würden aber an der Hand der Erfahrung verbessert werden. Die Mangel-
haftigkeit der Statuten liege zum Theil in der Mangelhaftigkeit der Arbeiter¬
statistik. Vorläufig würden vier, durch plötzliches Unglück invalid gewordene
Arbeiter mit je 2 Thaler wöchentlich unterstützt. In dieser Thatsache liege
doch schon ein Fortschritt gegen früher. Der Arbeiter, der sich nicht versichere,
möge die Folgen tragen und ins Arbeitshaus verwiesen werden; man möge
dann aber auch das Streben der Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, denselben
nicht als Verbrechen anrechnen und mit denselben lieber sich gütlich ausgleichen,
als wie hier jetzt in Danzig zuvor erst sehen, wie weit die Kräfte derselben reichen.

Den ebenmitgetheilten Argumenten für die Freiheit des Hülfscassenwesens
trat zunächst Otto Wolff aus Stettin entgegen, der in den Zwangs-
hülfscassen ein Mittel erblickte, um die bereits so vielfach angefochtene und
manchen Gemeinden unbequem werdende Freizügigkeit zu retten. Er bemerkte,
daß der Referent Rickert einen etwaigen Conflict zwischen der Armenunter¬
stützungspflicht zwischen den Gemeinden und der Freizügigkeit durch eine Reform
der Armenpflege beseitigen wolle, doch reiche es nicht aus, die Armen ins
Armenhaus zu schicken, man müsse dann die Armenpflege überhaupt ihres


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[0029] der Hülfscassen der Arbeiter kräftig annehmen und Zuschüsse nach einem an¬ gemessenen Maßstabe leisten, um namentlich auch solchen Personen, welche eine Versicherungsanstalt gewöhnlicher Art entweder gar nicht oder nur zu un¬ verhältnismäßig hohen Prämien aufnehmen würden, die Möglichkeit der Be¬ theiligung zu verschaffen. Ferner müsse das gesammte Publieum ein Inter¬ esse daran nehmen. Gemeinnützige Männer müßten den Arbeitern mit Rath und That zur Seite stehen, um sie vor Schaden zu bewahren. Nach diesen Ausführungen der beiden Referenten constatirte ein Arbeiter Benkmann aus Danzig, als Bevollmächtigter für den Verband der deutschen Gewerkvereine, das Verlangen der Arbeiter, daß der Beitrittszwang zu den gewerblichen Hülfscassen aufgehoben werde. Die Gewerkvereine hätten bereits vor zwei Jahren beim Reichstage um Aufhebung des Zwanges petitionirt. Der leise Zwang, den die deutsche Gewerbeordnung noch ausspreche, wonach der Arbeiter mindestens einer Casse angehören müsse, könnte den Gewerk¬ vereinen bei eigennütziger Tendenz schon erwünscht sein, weil er ihnen Arbeiter in Masse zuführe, aber die Gewerkvereine wollten im individuellen Interesse des Arbeiters volle Freiheit. Die freien Cassen der Gewerkvereine sicherten den Arbeiter bei Veränderung seines Wohnsitzes gegen Verlust, da die Mit¬ gliedschaft nicht von dem Wohnsitze bedingt sei, sie gewöhnen ihn an Selbst¬ verwaltung und machen ihn zu einem seiner Selbstverantwortlichkeit bewußten Staatsbürger, während der Arbeiter durch eine ihm angewiesene Ausnahms- stellung gedrückt werde und in seinen eigenen Augen entwürdigt erscheine. Die bestehenden freien Cassen der Arbeiter seien noch mangelhaft, die Statuten würden aber an der Hand der Erfahrung verbessert werden. Die Mangel- haftigkeit der Statuten liege zum Theil in der Mangelhaftigkeit der Arbeiter¬ statistik. Vorläufig würden vier, durch plötzliches Unglück invalid gewordene Arbeiter mit je 2 Thaler wöchentlich unterstützt. In dieser Thatsache liege doch schon ein Fortschritt gegen früher. Der Arbeiter, der sich nicht versichere, möge die Folgen tragen und ins Arbeitshaus verwiesen werden; man möge dann aber auch das Streben der Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, denselben nicht als Verbrechen anrechnen und mit denselben lieber sich gütlich ausgleichen, als wie hier jetzt in Danzig zuvor erst sehen, wie weit die Kräfte derselben reichen. Den ebenmitgetheilten Argumenten für die Freiheit des Hülfscassenwesens trat zunächst Otto Wolff aus Stettin entgegen, der in den Zwangs- hülfscassen ein Mittel erblickte, um die bereits so vielfach angefochtene und manchen Gemeinden unbequem werdende Freizügigkeit zu retten. Er bemerkte, daß der Referent Rickert einen etwaigen Conflict zwischen der Armenunter¬ stützungspflicht zwischen den Gemeinden und der Freizügigkeit durch eine Reform der Armenpflege beseitigen wolle, doch reiche es nicht aus, die Armen ins Armenhaus zu schicken, man müsse dann die Armenpflege überhaupt ihres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/29>, abgerufen am 25.08.2024.