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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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ordnung müssen vielmehr vorhanden sein, um die allgemeine Wehrpflicht
als Frucht tragen zu können.

Nach Alledem, was wir in unserer Darstellung des französischen Heer¬
lebens während eines ganzen Jahrhunderts über den Mangel an Stetigkeit
in den Bestrebungen der Nation und über die Unfähigkeit gesagt haben, ein
und dasselbe Ziel selbstlos und liebevoll, zäh und besonnen zu verfolgen,
glauben wir indessen nicht an eine consequente Durchführung der all¬
gemeinen Wehrpflicht. Man darf nicht verkennen, daß vor sechszig Jahren,
als die große Neuerung bei uns in Preußen eingeführt wurde, die Verhält¬
nisse des ganzen Lebens, namentlich in den herb geschulten armen Landen
Norddeutschlands einer solchen strengen Maßregel unendlich viel mehr ent¬
gegenkamen, als die complicirte sociale Situation der Jetztzeit. Zeit und
Kräfte werden heut in ganz anderem Maße verwerthet, als damals, und man
darf es sich gestehn, daß eine neue Einführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht, wenn das Borbild Preußens fehlte, auch in Deutschland zur Zeit auf
die größten Schwierigkeiten stoßen würde. Nun aber will Frankreich die Wehr¬
pflicht in sehr viel radicalerer und schrofferer Weise einführen, als sie bei uns
besteht, und doch zugleich durch das Loos Unterschiede in den aufzuerlegenden
Leistungen statmren, welche der "Gleichheit" thatsächlich widersprechen. In
dieser Weise eingerichtet, würde die allgemeine Wehrpflicht auch bei uns
nicht aufrecht zu erhalten sein. Denn abgesehen davon, daß in Frankreich
die Gesammtdienstpflicht auf 20 Jahre festgesetzt ist, während man sie in
Preußen aus gewichtigen Gründen von 19 auf 12 Jahre herabgesetzt hat, tragen
alle einzelnen Bestimmungen des französischen Gesetzes den bürgerlichen Verhält¬
nissen durchweg weniger Rechnung als die deutsche Wehrverfassung. Während
bei uns in Deutschland, wenigstens für die Hauptmasse des Heeres, das Fußvolk,
praktisch eine nur Z^jährige Dienstzeit besteht, soll bei den Franzosen die eine
Hälfte des Contingents 5 Jahre, die andere Hälfte 1 Jahr dienen. Fünfjährige
Dienstzeit bei allgemeiner Wehrpflicht, das ist eine Forderung, der ein modernes
Volk nicht entsprechen kann, und einjährige Dienstzeit, das ist eine Frist, in
welcher die schwierige Erziehung eines modernen Soldaten, der nicht von vorn¬
herein ausnahmsweiser Bildung theilhaftig ist, nicht vollendet werden kann.
Auf der einen Seite also 'wird zu viel, auf der andern zu wenig verlangt.
Die auf ein Jahr eingestellte Hälfte des Contingents entspricht ganz und gar
der äsuxie;in<z portion, und die Bestimmung, daß die Commandeurs solche
Leute, welche lesen und schreiben können, bereits nach 6 Monaten entlassen
dürfen, setzt für einen großen Theil dieser äeuxiöme portion sogar wieder die
Dienstzeit auf das alte Krümpermaß herab. Damit aber ergeben sich Schwie¬
rigkeiten der peinlichsten Art. Der Einjährig-Freiwillige, an welchen wissen¬
schaftliche Anforderungen gestellt werden, die wesentlich höher sind als die in


ordnung müssen vielmehr vorhanden sein, um die allgemeine Wehrpflicht
als Frucht tragen zu können.

Nach Alledem, was wir in unserer Darstellung des französischen Heer¬
lebens während eines ganzen Jahrhunderts über den Mangel an Stetigkeit
in den Bestrebungen der Nation und über die Unfähigkeit gesagt haben, ein
und dasselbe Ziel selbstlos und liebevoll, zäh und besonnen zu verfolgen,
glauben wir indessen nicht an eine consequente Durchführung der all¬
gemeinen Wehrpflicht. Man darf nicht verkennen, daß vor sechszig Jahren,
als die große Neuerung bei uns in Preußen eingeführt wurde, die Verhält¬
nisse des ganzen Lebens, namentlich in den herb geschulten armen Landen
Norddeutschlands einer solchen strengen Maßregel unendlich viel mehr ent¬
gegenkamen, als die complicirte sociale Situation der Jetztzeit. Zeit und
Kräfte werden heut in ganz anderem Maße verwerthet, als damals, und man
darf es sich gestehn, daß eine neue Einführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht, wenn das Borbild Preußens fehlte, auch in Deutschland zur Zeit auf
die größten Schwierigkeiten stoßen würde. Nun aber will Frankreich die Wehr¬
pflicht in sehr viel radicalerer und schrofferer Weise einführen, als sie bei uns
besteht, und doch zugleich durch das Loos Unterschiede in den aufzuerlegenden
Leistungen statmren, welche der „Gleichheit" thatsächlich widersprechen. In
dieser Weise eingerichtet, würde die allgemeine Wehrpflicht auch bei uns
nicht aufrecht zu erhalten sein. Denn abgesehen davon, daß in Frankreich
die Gesammtdienstpflicht auf 20 Jahre festgesetzt ist, während man sie in
Preußen aus gewichtigen Gründen von 19 auf 12 Jahre herabgesetzt hat, tragen
alle einzelnen Bestimmungen des französischen Gesetzes den bürgerlichen Verhält¬
nissen durchweg weniger Rechnung als die deutsche Wehrverfassung. Während
bei uns in Deutschland, wenigstens für die Hauptmasse des Heeres, das Fußvolk,
praktisch eine nur Z^jährige Dienstzeit besteht, soll bei den Franzosen die eine
Hälfte des Contingents 5 Jahre, die andere Hälfte 1 Jahr dienen. Fünfjährige
Dienstzeit bei allgemeiner Wehrpflicht, das ist eine Forderung, der ein modernes
Volk nicht entsprechen kann, und einjährige Dienstzeit, das ist eine Frist, in
welcher die schwierige Erziehung eines modernen Soldaten, der nicht von vorn¬
herein ausnahmsweiser Bildung theilhaftig ist, nicht vollendet werden kann.
Auf der einen Seite also 'wird zu viel, auf der andern zu wenig verlangt.
Die auf ein Jahr eingestellte Hälfte des Contingents entspricht ganz und gar
der äsuxie;in<z portion, und die Bestimmung, daß die Commandeurs solche
Leute, welche lesen und schreiben können, bereits nach 6 Monaten entlassen
dürfen, setzt für einen großen Theil dieser äeuxiöme portion sogar wieder die
Dienstzeit auf das alte Krümpermaß herab. Damit aber ergeben sich Schwie¬
rigkeiten der peinlichsten Art. Der Einjährig-Freiwillige, an welchen wissen¬
schaftliche Anforderungen gestellt werden, die wesentlich höher sind als die in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/277>, abgerufen am 22.07.2024.