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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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oder nicht, gehören bis zum 40. Lebensjahre zur Territorial-Armee. -- Diese Mann-
schaften werden noch nachträglich in Bezug auf ihre Dienstbrauchbarkeit untersucht.

Art. 78. Die jungen Leute, welche, statt der mobilen Nationalgarde überwiesen
zu werden oder in derselben zu verbleiben, nach den vorstehenden Bestimmungen zur
Reserve gehören, werden nach einem vom Kriegsminister zu erlassenden Reglement
Uebungen und Controllversammlungen unterworfen.

Art. 79. Die Bedingung, lesen und schreiben zu können, um freiwillig in das
Heer zu treten oder nach einem Dicnstjcchre zur Disposition beurlaubt zu werden, tritt
erst mit dem 1. Januar 1875 in Kraft.

Art. 80. Alle Bestimmungen der früheren auf die Recrutirung der Armee be¬
züglichen Gesetze und Decrete werden aufgehoben.

So war denn die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich einge¬
führt in Frankreich. Wohl hatten die französischen Zeitungen recht, als
sie dies Ereigniß für eine der bedeutendsten Thatsachen unserer Zeit erklärten.
Sie sahen außerdem darin ein Anzeichen, das geeignet sei, diejenigen zu trösten,
welche in Folge des herben Nationalunglücks in Entmuthigung zu versinken
drohten, und zugleich die würdigste Antwort, welche Frankreich denen ertheilen
konnte, "die sich schmeicheln, seinem Todeskampfe beizuwohnen und ihm in
Form liebevoller Tröstungen etwas zu frühzeitig Leichenreden halten."*) --
Er fragt sich, in wieweit die letzteren Anschauungen berechtigt sind; es fragt
sich, ob die allgemeine Wehrpflicht sich auch in Frankreich als practisch durch¬
führbar erweisen wird, und ob sie -- wirklich als dauernde Institution zur
Durchführung gelangend -- in Wahrheit die Wehrkraft des Landes steigern
oder vielmehr den Parteien, welche 1871 keinen Anstand genommen, sich an¬
gesichts des Feindes so furchtbar zu bekämpfen, nur noch als Waffe dienen
wird, um das Werk socialer Zerrüttung nur noch mit größeren Kräften fort¬
zusetzen und einem schrecklichen Ende zuzuführen. Schon bei den bisherigen
conservativen Militärsystemen haben wir jede Revolution unter Beistand der
Armee siegen sehn; wie werden erst die Parteien um die Truppen buhlen, wenn
dem Heere durch das Zuströmen einer Menge Intelligenzen ohne sittliche Kraft
das Gift politischer und socialer Zersetzung weit intensiver zugeführt wird als
bisher, wenn ein verstärktes Contingent aus den dem Communismus hul¬
digenden Arbeiterkreisen in seine Reihen tritt! Und wenn die Parteien nicht
unmittelbar die active Armee zu ihrem Willen finden sollten, bietet sich ihnen
nicht in den ganz oder halb ausgebildeten großen Neservemassen ein für ihre
Zwecke unschätzbares Menschenmaterial dar, das unter der Führung von Dema¬
gogen statt der Schutz, der Fluch des Vaterlandes werden muß?! -- Nein,
die allgemeine Wehrpflicht ist nicht der fruchtbare Boden, aus dem heraus die
Blüthe nationaler und sittlicher Größe wächst; sittliche Kraft und feste Staats-



-) "^cups" August 1871.

oder nicht, gehören bis zum 40. Lebensjahre zur Territorial-Armee. — Diese Mann-
schaften werden noch nachträglich in Bezug auf ihre Dienstbrauchbarkeit untersucht.

Art. 78. Die jungen Leute, welche, statt der mobilen Nationalgarde überwiesen
zu werden oder in derselben zu verbleiben, nach den vorstehenden Bestimmungen zur
Reserve gehören, werden nach einem vom Kriegsminister zu erlassenden Reglement
Uebungen und Controllversammlungen unterworfen.

Art. 79. Die Bedingung, lesen und schreiben zu können, um freiwillig in das
Heer zu treten oder nach einem Dicnstjcchre zur Disposition beurlaubt zu werden, tritt
erst mit dem 1. Januar 1875 in Kraft.

Art. 80. Alle Bestimmungen der früheren auf die Recrutirung der Armee be¬
züglichen Gesetze und Decrete werden aufgehoben.

So war denn die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich einge¬
führt in Frankreich. Wohl hatten die französischen Zeitungen recht, als
sie dies Ereigniß für eine der bedeutendsten Thatsachen unserer Zeit erklärten.
Sie sahen außerdem darin ein Anzeichen, das geeignet sei, diejenigen zu trösten,
welche in Folge des herben Nationalunglücks in Entmuthigung zu versinken
drohten, und zugleich die würdigste Antwort, welche Frankreich denen ertheilen
konnte, „die sich schmeicheln, seinem Todeskampfe beizuwohnen und ihm in
Form liebevoller Tröstungen etwas zu frühzeitig Leichenreden halten."*) —
Er fragt sich, in wieweit die letzteren Anschauungen berechtigt sind; es fragt
sich, ob die allgemeine Wehrpflicht sich auch in Frankreich als practisch durch¬
führbar erweisen wird, und ob sie — wirklich als dauernde Institution zur
Durchführung gelangend — in Wahrheit die Wehrkraft des Landes steigern
oder vielmehr den Parteien, welche 1871 keinen Anstand genommen, sich an¬
gesichts des Feindes so furchtbar zu bekämpfen, nur noch als Waffe dienen
wird, um das Werk socialer Zerrüttung nur noch mit größeren Kräften fort¬
zusetzen und einem schrecklichen Ende zuzuführen. Schon bei den bisherigen
conservativen Militärsystemen haben wir jede Revolution unter Beistand der
Armee siegen sehn; wie werden erst die Parteien um die Truppen buhlen, wenn
dem Heere durch das Zuströmen einer Menge Intelligenzen ohne sittliche Kraft
das Gift politischer und socialer Zersetzung weit intensiver zugeführt wird als
bisher, wenn ein verstärktes Contingent aus den dem Communismus hul¬
digenden Arbeiterkreisen in seine Reihen tritt! Und wenn die Parteien nicht
unmittelbar die active Armee zu ihrem Willen finden sollten, bietet sich ihnen
nicht in den ganz oder halb ausgebildeten großen Neservemassen ein für ihre
Zwecke unschätzbares Menschenmaterial dar, das unter der Führung von Dema¬
gogen statt der Schutz, der Fluch des Vaterlandes werden muß?! — Nein,
die allgemeine Wehrpflicht ist nicht der fruchtbare Boden, aus dem heraus die
Blüthe nationaler und sittlicher Größe wächst; sittliche Kraft und feste Staats-



-) „^cups" August 1871.
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[0276] oder nicht, gehören bis zum 40. Lebensjahre zur Territorial-Armee. — Diese Mann- schaften werden noch nachträglich in Bezug auf ihre Dienstbrauchbarkeit untersucht. Art. 78. Die jungen Leute, welche, statt der mobilen Nationalgarde überwiesen zu werden oder in derselben zu verbleiben, nach den vorstehenden Bestimmungen zur Reserve gehören, werden nach einem vom Kriegsminister zu erlassenden Reglement Uebungen und Controllversammlungen unterworfen. Art. 79. Die Bedingung, lesen und schreiben zu können, um freiwillig in das Heer zu treten oder nach einem Dicnstjcchre zur Disposition beurlaubt zu werden, tritt erst mit dem 1. Januar 1875 in Kraft. Art. 80. Alle Bestimmungen der früheren auf die Recrutirung der Armee be¬ züglichen Gesetze und Decrete werden aufgehoben. So war denn die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich einge¬ führt in Frankreich. Wohl hatten die französischen Zeitungen recht, als sie dies Ereigniß für eine der bedeutendsten Thatsachen unserer Zeit erklärten. Sie sahen außerdem darin ein Anzeichen, das geeignet sei, diejenigen zu trösten, welche in Folge des herben Nationalunglücks in Entmuthigung zu versinken drohten, und zugleich die würdigste Antwort, welche Frankreich denen ertheilen konnte, „die sich schmeicheln, seinem Todeskampfe beizuwohnen und ihm in Form liebevoller Tröstungen etwas zu frühzeitig Leichenreden halten."*) — Er fragt sich, in wieweit die letzteren Anschauungen berechtigt sind; es fragt sich, ob die allgemeine Wehrpflicht sich auch in Frankreich als practisch durch¬ führbar erweisen wird, und ob sie — wirklich als dauernde Institution zur Durchführung gelangend — in Wahrheit die Wehrkraft des Landes steigern oder vielmehr den Parteien, welche 1871 keinen Anstand genommen, sich an¬ gesichts des Feindes so furchtbar zu bekämpfen, nur noch als Waffe dienen wird, um das Werk socialer Zerrüttung nur noch mit größeren Kräften fort¬ zusetzen und einem schrecklichen Ende zuzuführen. Schon bei den bisherigen conservativen Militärsystemen haben wir jede Revolution unter Beistand der Armee siegen sehn; wie werden erst die Parteien um die Truppen buhlen, wenn dem Heere durch das Zuströmen einer Menge Intelligenzen ohne sittliche Kraft das Gift politischer und socialer Zersetzung weit intensiver zugeführt wird als bisher, wenn ein verstärktes Contingent aus den dem Communismus hul¬ digenden Arbeiterkreisen in seine Reihen tritt! Und wenn die Parteien nicht unmittelbar die active Armee zu ihrem Willen finden sollten, bietet sich ihnen nicht in den ganz oder halb ausgebildeten großen Neservemassen ein für ihre Zwecke unschätzbares Menschenmaterial dar, das unter der Führung von Dema¬ gogen statt der Schutz, der Fluch des Vaterlandes werden muß?! — Nein, die allgemeine Wehrpflicht ist nicht der fruchtbare Boden, aus dem heraus die Blüthe nationaler und sittlicher Größe wächst; sittliche Kraft und feste Staats- -) „^cups" August 1871.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/276>, abgerufen am 22.07.2024.