Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu unbedeutend, in Danzig nur 4000 Thaler auf 100,000 Thaler, in Elber-
feld nur 13,000 auf 80,000 Thaler. Die Zwangscassen, deren Verwaltung
nothwendig eine büreaukratische sein müsse, erfordere auch verhältnißmäßig viel
zu theuere Verwaltungskosten, diese Kosten betragen durchschnittlich mehr als
13 Procent der Gesammtleistungen. Hierzu kommt, daß bei den Zwangs¬
cassen verhältnißmäßig nur geringe Beiträge verlangt werden können und daß
sich dafür nichts leisten läßt. Ferner werde bei den bisherigen Zwangscassen
in dem Arbeiter das Gefühl der vollen wirthschaftlichen Verantwortlichkeit
nicht geweckt, sondern er glaube im Gegentheil durch seine pflichtmäßigen
Beiträge auch seine Pflicht gegen seine Familie genügend erfüllt zu haben.
Darum müßten die Arbeiter auf frei zu bildende Cassen hingewiesen werden,
zu denen sie dann auch gerne freiwillig erheblichere Beiträge übernehmen
würden. Am Schlüsse seines Vortrags wendete sich der Referent zur Unter¬
suchung der Frage: wo denn nun die Abhülfe der gegenwärtigen Zustände
liege? Er fand sie in der Form der Armenpflege selbst. Der Arbeiter solle
volle Freiheit, daneben aber auch volle Verantwortlichkeit für seine Existenz
haben, indem ihn die Commune, falls er sich nicht mehr zu erhalten vermöge,
in das Arbeitshaus verweise, das allerdings abschreckend wirken müsse, um
eine rationelle Armenpflege zu Wege zu bringen. Also fort mit der Senti¬
mentalität unserer 'communalen Armenpflege, wobei die Unterstützten oft besser
leben als die Unterstützenden! Der Referent empfahl dieses Thema zu wieder¬
holter Behandlung auf dem Congreß und schlug in der Hauptsache folgende
Resolutionen vor: "1) Es ist nicht gerechtfertigt, für die Gesellen, Gehülfen
und Fabrikarbeiter einen Zwang zum Beitritt zu gewerblichen Hülff- und
Invaliden-Cassen gesetzlich festzustellen. 2) Der Staat hat die Aufgabe, die
freie Entwicklung und die möglichste Benutzung von Hülff- und Jnvaliden-
Cassen für alle Berufsclassen dadurch zu fördern, daß er im Wege der Gesetz¬
gebung über die Verwaltung, die Beitragsbedingungen und die Leistungen
dieser Cassen Bestimmungen trifft, welche eine erfolgreiche und dauernde Wirk¬
samkeit derselben sichern. Auch ist zugleich Vorsorge dafür zu treffen, daß das
Vermögen der Hülff- und Invaliden-Cassen zu keinem andern als zu dem in
den Statuten derselben ausgesprochenen Zwecke verwendet wird."

Der Ccrreferent Professor Böhmert von Zürich fügte diesen beiden An¬
trägen noch einen dritten hinzu, dahin lautend: 3) "Es ist wünschenswert^,
die Arbeiter-Hülfscassen so zu organisiren, daß sie möglichst weite Kreise um¬
fassen und die Freizügigkeit der Arbeiter nicht beeinträchtigen. Die Unter¬
nehmer sollten, im eigenen geschäftlichen Interesse die Selbstversicherung der
Arbeiter auf jede Weise fördern und entweder einzeln oder in Vereinen sich
der Arbeiter-Hülfscassen thätig annehmen." -- Vor Begründung dieses
Antrags suchte der Redner zunächst aus den Erfahrungen der Schweiz nach-


zu unbedeutend, in Danzig nur 4000 Thaler auf 100,000 Thaler, in Elber-
feld nur 13,000 auf 80,000 Thaler. Die Zwangscassen, deren Verwaltung
nothwendig eine büreaukratische sein müsse, erfordere auch verhältnißmäßig viel
zu theuere Verwaltungskosten, diese Kosten betragen durchschnittlich mehr als
13 Procent der Gesammtleistungen. Hierzu kommt, daß bei den Zwangs¬
cassen verhältnißmäßig nur geringe Beiträge verlangt werden können und daß
sich dafür nichts leisten läßt. Ferner werde bei den bisherigen Zwangscassen
in dem Arbeiter das Gefühl der vollen wirthschaftlichen Verantwortlichkeit
nicht geweckt, sondern er glaube im Gegentheil durch seine pflichtmäßigen
Beiträge auch seine Pflicht gegen seine Familie genügend erfüllt zu haben.
Darum müßten die Arbeiter auf frei zu bildende Cassen hingewiesen werden,
zu denen sie dann auch gerne freiwillig erheblichere Beiträge übernehmen
würden. Am Schlüsse seines Vortrags wendete sich der Referent zur Unter¬
suchung der Frage: wo denn nun die Abhülfe der gegenwärtigen Zustände
liege? Er fand sie in der Form der Armenpflege selbst. Der Arbeiter solle
volle Freiheit, daneben aber auch volle Verantwortlichkeit für seine Existenz
haben, indem ihn die Commune, falls er sich nicht mehr zu erhalten vermöge,
in das Arbeitshaus verweise, das allerdings abschreckend wirken müsse, um
eine rationelle Armenpflege zu Wege zu bringen. Also fort mit der Senti¬
mentalität unserer 'communalen Armenpflege, wobei die Unterstützten oft besser
leben als die Unterstützenden! Der Referent empfahl dieses Thema zu wieder¬
holter Behandlung auf dem Congreß und schlug in der Hauptsache folgende
Resolutionen vor: „1) Es ist nicht gerechtfertigt, für die Gesellen, Gehülfen
und Fabrikarbeiter einen Zwang zum Beitritt zu gewerblichen Hülff- und
Invaliden-Cassen gesetzlich festzustellen. 2) Der Staat hat die Aufgabe, die
freie Entwicklung und die möglichste Benutzung von Hülff- und Jnvaliden-
Cassen für alle Berufsclassen dadurch zu fördern, daß er im Wege der Gesetz¬
gebung über die Verwaltung, die Beitragsbedingungen und die Leistungen
dieser Cassen Bestimmungen trifft, welche eine erfolgreiche und dauernde Wirk¬
samkeit derselben sichern. Auch ist zugleich Vorsorge dafür zu treffen, daß das
Vermögen der Hülff- und Invaliden-Cassen zu keinem andern als zu dem in
den Statuten derselben ausgesprochenen Zwecke verwendet wird."

Der Ccrreferent Professor Böhmert von Zürich fügte diesen beiden An¬
trägen noch einen dritten hinzu, dahin lautend: 3) „Es ist wünschenswert^,
die Arbeiter-Hülfscassen so zu organisiren, daß sie möglichst weite Kreise um¬
fassen und die Freizügigkeit der Arbeiter nicht beeinträchtigen. Die Unter¬
nehmer sollten, im eigenen geschäftlichen Interesse die Selbstversicherung der
Arbeiter auf jede Weise fördern und entweder einzeln oder in Vereinen sich
der Arbeiter-Hülfscassen thätig annehmen." — Vor Begründung dieses
Antrags suchte der Redner zunächst aus den Erfahrungen der Schweiz nach-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128481"/>
          <p xml:id="ID_52" prev="#ID_51"> zu unbedeutend, in Danzig nur 4000 Thaler auf 100,000 Thaler, in Elber-<lb/>
feld nur 13,000 auf 80,000 Thaler. Die Zwangscassen, deren Verwaltung<lb/>
nothwendig eine büreaukratische sein müsse, erfordere auch verhältnißmäßig viel<lb/>
zu theuere Verwaltungskosten, diese Kosten betragen durchschnittlich mehr als<lb/>
13 Procent der Gesammtleistungen. Hierzu kommt, daß bei den Zwangs¬<lb/>
cassen verhältnißmäßig nur geringe Beiträge verlangt werden können und daß<lb/>
sich dafür nichts leisten läßt. Ferner werde bei den bisherigen Zwangscassen<lb/>
in dem Arbeiter das Gefühl der vollen wirthschaftlichen Verantwortlichkeit<lb/>
nicht geweckt, sondern er glaube im Gegentheil durch seine pflichtmäßigen<lb/>
Beiträge auch seine Pflicht gegen seine Familie genügend erfüllt zu haben.<lb/>
Darum müßten die Arbeiter auf frei zu bildende Cassen hingewiesen werden,<lb/>
zu denen sie dann auch gerne freiwillig erheblichere Beiträge übernehmen<lb/>
würden. Am Schlüsse seines Vortrags wendete sich der Referent zur Unter¬<lb/>
suchung der Frage: wo denn nun die Abhülfe der gegenwärtigen Zustände<lb/>
liege? Er fand sie in der Form der Armenpflege selbst. Der Arbeiter solle<lb/>
volle Freiheit, daneben aber auch volle Verantwortlichkeit für seine Existenz<lb/>
haben, indem ihn die Commune, falls er sich nicht mehr zu erhalten vermöge,<lb/>
in das Arbeitshaus verweise, das allerdings abschreckend wirken müsse, um<lb/>
eine rationelle Armenpflege zu Wege zu bringen. Also fort mit der Senti¬<lb/>
mentalität unserer 'communalen Armenpflege, wobei die Unterstützten oft besser<lb/>
leben als die Unterstützenden! Der Referent empfahl dieses Thema zu wieder¬<lb/>
holter Behandlung auf dem Congreß und schlug in der Hauptsache folgende<lb/>
Resolutionen vor: &#x201E;1) Es ist nicht gerechtfertigt, für die Gesellen, Gehülfen<lb/>
und Fabrikarbeiter einen Zwang zum Beitritt zu gewerblichen Hülff- und<lb/>
Invaliden-Cassen gesetzlich festzustellen. 2) Der Staat hat die Aufgabe, die<lb/>
freie Entwicklung und die möglichste Benutzung von Hülff- und Jnvaliden-<lb/>
Cassen für alle Berufsclassen dadurch zu fördern, daß er im Wege der Gesetz¬<lb/>
gebung über die Verwaltung, die Beitragsbedingungen und die Leistungen<lb/>
dieser Cassen Bestimmungen trifft, welche eine erfolgreiche und dauernde Wirk¬<lb/>
samkeit derselben sichern. Auch ist zugleich Vorsorge dafür zu treffen, daß das<lb/>
Vermögen der Hülff- und Invaliden-Cassen zu keinem andern als zu dem in<lb/>
den Statuten derselben ausgesprochenen Zwecke verwendet wird."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_53" next="#ID_54"> Der Ccrreferent Professor Böhmert von Zürich fügte diesen beiden An¬<lb/>
trägen noch einen dritten hinzu, dahin lautend: 3) &#x201E;Es ist wünschenswert^,<lb/>
die Arbeiter-Hülfscassen so zu organisiren, daß sie möglichst weite Kreise um¬<lb/>
fassen und die Freizügigkeit der Arbeiter nicht beeinträchtigen. Die Unter¬<lb/>
nehmer sollten, im eigenen geschäftlichen Interesse die Selbstversicherung der<lb/>
Arbeiter auf jede Weise fördern und entweder einzeln oder in Vereinen sich<lb/>
der Arbeiter-Hülfscassen thätig annehmen." &#x2014; Vor Begründung dieses<lb/>
Antrags suchte der Redner zunächst aus den Erfahrungen der Schweiz nach-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0027] zu unbedeutend, in Danzig nur 4000 Thaler auf 100,000 Thaler, in Elber- feld nur 13,000 auf 80,000 Thaler. Die Zwangscassen, deren Verwaltung nothwendig eine büreaukratische sein müsse, erfordere auch verhältnißmäßig viel zu theuere Verwaltungskosten, diese Kosten betragen durchschnittlich mehr als 13 Procent der Gesammtleistungen. Hierzu kommt, daß bei den Zwangs¬ cassen verhältnißmäßig nur geringe Beiträge verlangt werden können und daß sich dafür nichts leisten läßt. Ferner werde bei den bisherigen Zwangscassen in dem Arbeiter das Gefühl der vollen wirthschaftlichen Verantwortlichkeit nicht geweckt, sondern er glaube im Gegentheil durch seine pflichtmäßigen Beiträge auch seine Pflicht gegen seine Familie genügend erfüllt zu haben. Darum müßten die Arbeiter auf frei zu bildende Cassen hingewiesen werden, zu denen sie dann auch gerne freiwillig erheblichere Beiträge übernehmen würden. Am Schlüsse seines Vortrags wendete sich der Referent zur Unter¬ suchung der Frage: wo denn nun die Abhülfe der gegenwärtigen Zustände liege? Er fand sie in der Form der Armenpflege selbst. Der Arbeiter solle volle Freiheit, daneben aber auch volle Verantwortlichkeit für seine Existenz haben, indem ihn die Commune, falls er sich nicht mehr zu erhalten vermöge, in das Arbeitshaus verweise, das allerdings abschreckend wirken müsse, um eine rationelle Armenpflege zu Wege zu bringen. Also fort mit der Senti¬ mentalität unserer 'communalen Armenpflege, wobei die Unterstützten oft besser leben als die Unterstützenden! Der Referent empfahl dieses Thema zu wieder¬ holter Behandlung auf dem Congreß und schlug in der Hauptsache folgende Resolutionen vor: „1) Es ist nicht gerechtfertigt, für die Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter einen Zwang zum Beitritt zu gewerblichen Hülff- und Invaliden-Cassen gesetzlich festzustellen. 2) Der Staat hat die Aufgabe, die freie Entwicklung und die möglichste Benutzung von Hülff- und Jnvaliden- Cassen für alle Berufsclassen dadurch zu fördern, daß er im Wege der Gesetz¬ gebung über die Verwaltung, die Beitragsbedingungen und die Leistungen dieser Cassen Bestimmungen trifft, welche eine erfolgreiche und dauernde Wirk¬ samkeit derselben sichern. Auch ist zugleich Vorsorge dafür zu treffen, daß das Vermögen der Hülff- und Invaliden-Cassen zu keinem andern als zu dem in den Statuten derselben ausgesprochenen Zwecke verwendet wird." Der Ccrreferent Professor Böhmert von Zürich fügte diesen beiden An¬ trägen noch einen dritten hinzu, dahin lautend: 3) „Es ist wünschenswert^, die Arbeiter-Hülfscassen so zu organisiren, daß sie möglichst weite Kreise um¬ fassen und die Freizügigkeit der Arbeiter nicht beeinträchtigen. Die Unter¬ nehmer sollten, im eigenen geschäftlichen Interesse die Selbstversicherung der Arbeiter auf jede Weise fördern und entweder einzeln oder in Vereinen sich der Arbeiter-Hülfscassen thätig annehmen." — Vor Begründung dieses Antrags suchte der Redner zunächst aus den Erfahrungen der Schweiz nach-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/27
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/27>, abgerufen am 22.07.2024.