Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.Congreß einen vollen Tag in der eingehendsten Weise beschäftigte. Stadtrath Congreß einen vollen Tag in der eingehendsten Weise beschäftigte. Stadtrath <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128480"/> <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50" next="#ID_52"> Congreß einen vollen Tag in der eingehendsten Weise beschäftigte. Stadtrath<lb/> Rickert von Danzig erstattete darüber einen eben so gediegenen wie inter¬<lb/> essanten Bericht, welcher wohl unbedingt als die beste Leistung des diesjährigen<lb/> Congresses bezeichnet werden kann. Die Frage der Arbeiter Hülff- und In-<lb/> validen-Cassen ist in letzter Zeit sehr in den Vordergrund getreten, weil man<lb/> darin ein Hülfsmittel erblickt, um die Last der Armenpflege zu erleichtern, vor<lb/> der sich die Communen in Folge der Reichsgesetze über Freizügigkeit und über<lb/> den Unterstützungswohnsitz immer mehr zu fürchten scheinen, so daß man hier<lb/> und da schon verschiedene Beschränkungen der Freizügigkeit vorgeschlagen hat.<lb/> Unter der früheren preußischen Gewerbeordnung bestand ein Zwang für Ar¬<lb/> beiter und Unternehmer, zu gewerblichen Hülfscassen beizusteuern. Nach der<lb/> norddeutschen Gewerbeordnung entbindet der Nachweis, einer andern Casse<lb/> anzugehören, den Gewerbsgehülfen von der Pflicht, einer durch Ortsstatut er¬<lb/> richteten Casse beizutreten. Der Reichstag hat nun schon vor einigen Jahren<lb/> die Vorlage eines Gesetzes verlangt, welches Normativbedingungen für die<lb/> Errichtung solcher gewerblichen Hülfscassen aufstelle und die Beitragspflicht<lb/> regeln soll; seit 1869 beschäftigt dieser Beschluß den Bundesrath. Inzwischen<lb/> ist in diesen Cassen Verwirrung eingetreten, die Communen können ihren<lb/> Verpflichtungen nicht nachkommen, mehrere der durch Ortsstatute errichteten<lb/> Zwangscasfen sind eingegangen. Es fragt sich daher, welchen Standpunkt<lb/> die Reichsgesetzgebung in dieser wichtigen Frage künftig einnehmen und ob der<lb/> Versicherungszwang gerade gegen die Classe der gewerblichen Hülfsarbeiter<lb/> durchgeführt werden soll. Der Referent Rickert verneint die Zweckmäßigkeit<lb/> des staatlichen Einschreitens hauptsächlich deshalb, weil er die Ueberzeugung<lb/> habe, daß die Frage auf anderem Wege besser gelöst werde. Er lieferte zu¬<lb/> nächst den statistischen Nachweis, daß es keineswegs Gesellen und Fabrikarbeiter<lb/> seien, die vorzugsweise den Gemeinden als unterstützungsbedürftig zur Last<lb/> fallen. In Berlin besteht nur der vierte Theil der Unterstützten aus Männern,<lb/> drei Viertheile aus Frauen und Kindern. In der Fabrikstadt Elberfeld<lb/> werden nur 1297 Personen unterstützt. Danzig habe mindestens 6 — 6000<lb/> unterstützte Personen, obwohl es keine Fabrikstadt sei und das Gesetz über<lb/> die Zwangscassen hier kaum eine Voraussetzung habe. Die Maßregel der<lb/> obligatorischen Hülfscassen sei, wie die Erfahrung lehre, ganz unzureichend<lb/> motivirt, weil es gar nicht die Industrie-Arbeiter sind, welche die Gemeinden<lb/> vorzugsweise belasten. Es sei daher durchaus unnöthig, für diese Classe der<lb/> Bevölkerung, die überdies nur etwa Is Procent ausmache, eine Ausnahms-<lb/> Gesetzgebung zu erlassen; etwas Anderes als eine Ausnahme, als ein xrivils-<lb/> gium oäiosurll für Arbeiter sei der Zwang zum Beitritt zu Unterstützungs-<lb/> cassen nicht. Die bisherigen Zwangscassen haben factisch auch nichts geleistet.<lb/> Die ausgebrachten Beiträge seien gegenüber der Armenetats der Communen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
Congreß einen vollen Tag in der eingehendsten Weise beschäftigte. Stadtrath
Rickert von Danzig erstattete darüber einen eben so gediegenen wie inter¬
essanten Bericht, welcher wohl unbedingt als die beste Leistung des diesjährigen
Congresses bezeichnet werden kann. Die Frage der Arbeiter Hülff- und In-
validen-Cassen ist in letzter Zeit sehr in den Vordergrund getreten, weil man
darin ein Hülfsmittel erblickt, um die Last der Armenpflege zu erleichtern, vor
der sich die Communen in Folge der Reichsgesetze über Freizügigkeit und über
den Unterstützungswohnsitz immer mehr zu fürchten scheinen, so daß man hier
und da schon verschiedene Beschränkungen der Freizügigkeit vorgeschlagen hat.
Unter der früheren preußischen Gewerbeordnung bestand ein Zwang für Ar¬
beiter und Unternehmer, zu gewerblichen Hülfscassen beizusteuern. Nach der
norddeutschen Gewerbeordnung entbindet der Nachweis, einer andern Casse
anzugehören, den Gewerbsgehülfen von der Pflicht, einer durch Ortsstatut er¬
richteten Casse beizutreten. Der Reichstag hat nun schon vor einigen Jahren
die Vorlage eines Gesetzes verlangt, welches Normativbedingungen für die
Errichtung solcher gewerblichen Hülfscassen aufstelle und die Beitragspflicht
regeln soll; seit 1869 beschäftigt dieser Beschluß den Bundesrath. Inzwischen
ist in diesen Cassen Verwirrung eingetreten, die Communen können ihren
Verpflichtungen nicht nachkommen, mehrere der durch Ortsstatute errichteten
Zwangscasfen sind eingegangen. Es fragt sich daher, welchen Standpunkt
die Reichsgesetzgebung in dieser wichtigen Frage künftig einnehmen und ob der
Versicherungszwang gerade gegen die Classe der gewerblichen Hülfsarbeiter
durchgeführt werden soll. Der Referent Rickert verneint die Zweckmäßigkeit
des staatlichen Einschreitens hauptsächlich deshalb, weil er die Ueberzeugung
habe, daß die Frage auf anderem Wege besser gelöst werde. Er lieferte zu¬
nächst den statistischen Nachweis, daß es keineswegs Gesellen und Fabrikarbeiter
seien, die vorzugsweise den Gemeinden als unterstützungsbedürftig zur Last
fallen. In Berlin besteht nur der vierte Theil der Unterstützten aus Männern,
drei Viertheile aus Frauen und Kindern. In der Fabrikstadt Elberfeld
werden nur 1297 Personen unterstützt. Danzig habe mindestens 6 — 6000
unterstützte Personen, obwohl es keine Fabrikstadt sei und das Gesetz über
die Zwangscassen hier kaum eine Voraussetzung habe. Die Maßregel der
obligatorischen Hülfscassen sei, wie die Erfahrung lehre, ganz unzureichend
motivirt, weil es gar nicht die Industrie-Arbeiter sind, welche die Gemeinden
vorzugsweise belasten. Es sei daher durchaus unnöthig, für diese Classe der
Bevölkerung, die überdies nur etwa Is Procent ausmache, eine Ausnahms-
Gesetzgebung zu erlassen; etwas Anderes als eine Ausnahme, als ein xrivils-
gium oäiosurll für Arbeiter sei der Zwang zum Beitritt zu Unterstützungs-
cassen nicht. Die bisherigen Zwangscassen haben factisch auch nichts geleistet.
Die ausgebrachten Beiträge seien gegenüber der Armenetats der Communen
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |