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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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vor nicht sehr langer Zeit in Thüringen ein Bauer, welcher die seine Wiese
oder seinen Obstgarten umzäunende Mehlbeerbaum-Hecke ausgerottet hatte,
von einem Zigeuner im Zorn über diesen Frevel erschossen wurde. -- Das
allen Zigeunern gemeinschaftliche Wappen, welches das Bildniß eines
Igels zeigt, wird dadurch ein die drei Landsmannschaften unterscheidendes,
daß die vorzugsweise in Altpreußen verkehrenden Zigeuner dem Igel ein
Tannenreis, die in den neuen Provinzen umherziehenden ihm ein Birken¬
blatt, die hannoverschen endlich ihm das Blatt eines Mehlbeerbaumes in das
Maul geben.

Der Hauptmann der Landsmannschaft hatte früher unbeschränkte Macht
und Gerichtsbarkeit über dieselbe. Er besaß auch das jus glaäii. Auch jetzt
übt derselbe das oberste Richteramt in der ihm untergebenen Partei der
Zigeuner aus, nur kann er das Recht über Leben und Tod nicht mehr gel¬
tend machen, da ihn gegenwärtig die Gesetze des Staates treffen würden, wenn
er Hinrichtungen vollstrecken lassen wollte. -- Vor etwa hundert Jahren, so
erzählt die Sage der Zigeuner, als der große Krieg war (der siebenjährige,
vielleicht auch der dreißigjährige; denn von Zeitrechnung ist in solchen
Erzählungen nicht die Rede), herrschte in Deutschland ein Hauptmann,
der sich Maximilianus, Großcornet der Zigeunernation nannte. In der
Nachbarschaft von Cöthen, im Walde bei Vollstedt, pflegte er fein Volk zu
versammeln und über die Schuldigen Gericht zu halten. Man zeigt dort
noch heutigen Tages eine alte Eiche, in welche eiserne Haspen mit Ringen
eingeschlagen sind, als diejenige, an welche er sein Pferd fest zu binden
pflegte. Er war ein prachtliebender Herr, der seinen Stock und Hut mit
Goldtressen verzierte, und dessen Flinten und Pistolen mit Silber ausge¬
legt waren. Sein Gericht war kurz, sein Spruch streng. Selbst ge¬
ringe Versehen wurden von ihm mit dem Tode bestraft. Ein Scharfrichter
-- zigeunerisch "Guschwalo" -- der ihn überall hin begleitete, vollstreckte ohne
Verzug das ergangene Urtheil, indem er dem armen Sünder mit einem eisernen
Hammer die Stirn einschlug. In späteren Jahren ergriff den Hauptmann
Furcht vor der Rache der von ihm gemißhandelten Familien, und er ließ
deshalb die Söhne der von ihm verurtheilten Leute ebenfalls hinrichten. Aber
seinem Schicksal entging er deshalb doch nicht. Als er seinem Neffen die
Hand, mit welcher er einen Zweig von dem heiligen Baume gebrochen, hatte
abhauen lassen, wurde er von dem Vater des Knaben, einem kaiserlichen
Reitersmann, der ihm denselben zur Erziehung anvertraut, mit einer silbernen
Kugel erschossen. In der Kirche zu Vollstedt wird, wie diese Sage behauptet,
noch jetzt der silberne Becher aufbewahrt, aus dem der Großcornet trank, und
seine rothe mit Gold durchwirkte Schabracke dient dort als Altardecke.


vor nicht sehr langer Zeit in Thüringen ein Bauer, welcher die seine Wiese
oder seinen Obstgarten umzäunende Mehlbeerbaum-Hecke ausgerottet hatte,
von einem Zigeuner im Zorn über diesen Frevel erschossen wurde. — Das
allen Zigeunern gemeinschaftliche Wappen, welches das Bildniß eines
Igels zeigt, wird dadurch ein die drei Landsmannschaften unterscheidendes,
daß die vorzugsweise in Altpreußen verkehrenden Zigeuner dem Igel ein
Tannenreis, die in den neuen Provinzen umherziehenden ihm ein Birken¬
blatt, die hannoverschen endlich ihm das Blatt eines Mehlbeerbaumes in das
Maul geben.

Der Hauptmann der Landsmannschaft hatte früher unbeschränkte Macht
und Gerichtsbarkeit über dieselbe. Er besaß auch das jus glaäii. Auch jetzt
übt derselbe das oberste Richteramt in der ihm untergebenen Partei der
Zigeuner aus, nur kann er das Recht über Leben und Tod nicht mehr gel¬
tend machen, da ihn gegenwärtig die Gesetze des Staates treffen würden, wenn
er Hinrichtungen vollstrecken lassen wollte. — Vor etwa hundert Jahren, so
erzählt die Sage der Zigeuner, als der große Krieg war (der siebenjährige,
vielleicht auch der dreißigjährige; denn von Zeitrechnung ist in solchen
Erzählungen nicht die Rede), herrschte in Deutschland ein Hauptmann,
der sich Maximilianus, Großcornet der Zigeunernation nannte. In der
Nachbarschaft von Cöthen, im Walde bei Vollstedt, pflegte er fein Volk zu
versammeln und über die Schuldigen Gericht zu halten. Man zeigt dort
noch heutigen Tages eine alte Eiche, in welche eiserne Haspen mit Ringen
eingeschlagen sind, als diejenige, an welche er sein Pferd fest zu binden
pflegte. Er war ein prachtliebender Herr, der seinen Stock und Hut mit
Goldtressen verzierte, und dessen Flinten und Pistolen mit Silber ausge¬
legt waren. Sein Gericht war kurz, sein Spruch streng. Selbst ge¬
ringe Versehen wurden von ihm mit dem Tode bestraft. Ein Scharfrichter
— zigeunerisch „Guschwalo" — der ihn überall hin begleitete, vollstreckte ohne
Verzug das ergangene Urtheil, indem er dem armen Sünder mit einem eisernen
Hammer die Stirn einschlug. In späteren Jahren ergriff den Hauptmann
Furcht vor der Rache der von ihm gemißhandelten Familien, und er ließ
deshalb die Söhne der von ihm verurtheilten Leute ebenfalls hinrichten. Aber
seinem Schicksal entging er deshalb doch nicht. Als er seinem Neffen die
Hand, mit welcher er einen Zweig von dem heiligen Baume gebrochen, hatte
abhauen lassen, wurde er von dem Vater des Knaben, einem kaiserlichen
Reitersmann, der ihm denselben zur Erziehung anvertraut, mit einer silbernen
Kugel erschossen. In der Kirche zu Vollstedt wird, wie diese Sage behauptet,
noch jetzt der silberne Becher aufbewahrt, aus dem der Großcornet trank, und
seine rothe mit Gold durchwirkte Schabracke dient dort als Altardecke.


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[0251] vor nicht sehr langer Zeit in Thüringen ein Bauer, welcher die seine Wiese oder seinen Obstgarten umzäunende Mehlbeerbaum-Hecke ausgerottet hatte, von einem Zigeuner im Zorn über diesen Frevel erschossen wurde. — Das allen Zigeunern gemeinschaftliche Wappen, welches das Bildniß eines Igels zeigt, wird dadurch ein die drei Landsmannschaften unterscheidendes, daß die vorzugsweise in Altpreußen verkehrenden Zigeuner dem Igel ein Tannenreis, die in den neuen Provinzen umherziehenden ihm ein Birken¬ blatt, die hannoverschen endlich ihm das Blatt eines Mehlbeerbaumes in das Maul geben. Der Hauptmann der Landsmannschaft hatte früher unbeschränkte Macht und Gerichtsbarkeit über dieselbe. Er besaß auch das jus glaäii. Auch jetzt übt derselbe das oberste Richteramt in der ihm untergebenen Partei der Zigeuner aus, nur kann er das Recht über Leben und Tod nicht mehr gel¬ tend machen, da ihn gegenwärtig die Gesetze des Staates treffen würden, wenn er Hinrichtungen vollstrecken lassen wollte. — Vor etwa hundert Jahren, so erzählt die Sage der Zigeuner, als der große Krieg war (der siebenjährige, vielleicht auch der dreißigjährige; denn von Zeitrechnung ist in solchen Erzählungen nicht die Rede), herrschte in Deutschland ein Hauptmann, der sich Maximilianus, Großcornet der Zigeunernation nannte. In der Nachbarschaft von Cöthen, im Walde bei Vollstedt, pflegte er fein Volk zu versammeln und über die Schuldigen Gericht zu halten. Man zeigt dort noch heutigen Tages eine alte Eiche, in welche eiserne Haspen mit Ringen eingeschlagen sind, als diejenige, an welche er sein Pferd fest zu binden pflegte. Er war ein prachtliebender Herr, der seinen Stock und Hut mit Goldtressen verzierte, und dessen Flinten und Pistolen mit Silber ausge¬ legt waren. Sein Gericht war kurz, sein Spruch streng. Selbst ge¬ ringe Versehen wurden von ihm mit dem Tode bestraft. Ein Scharfrichter — zigeunerisch „Guschwalo" — der ihn überall hin begleitete, vollstreckte ohne Verzug das ergangene Urtheil, indem er dem armen Sünder mit einem eisernen Hammer die Stirn einschlug. In späteren Jahren ergriff den Hauptmann Furcht vor der Rache der von ihm gemißhandelten Familien, und er ließ deshalb die Söhne der von ihm verurtheilten Leute ebenfalls hinrichten. Aber seinem Schicksal entging er deshalb doch nicht. Als er seinem Neffen die Hand, mit welcher er einen Zweig von dem heiligen Baume gebrochen, hatte abhauen lassen, wurde er von dem Vater des Knaben, einem kaiserlichen Reitersmann, der ihm denselben zur Erziehung anvertraut, mit einer silbernen Kugel erschossen. In der Kirche zu Vollstedt wird, wie diese Sage behauptet, noch jetzt der silberne Becher aufbewahrt, aus dem der Großcornet trank, und seine rothe mit Gold durchwirkte Schabracke dient dort als Altardecke.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/251>, abgerufen am 05.07.2024.