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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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gen Mädchen die Augen ausstechen wollten. Sie hatten das Mädchen wohl
schon verletzt, doch waren die Augen der Sehkraft noch nicht beraubt. Der
Pandur nahm die drei Verbrecher gefangen und befreite das Mädchen, welches
irgendwo gestohlen sein mußte und vermuthlich nur geblendet werden sollte,
damit ihm als einer blinden Bettlerin reichlichere Almosen zuflössen. Die
drei Landstreicher waren ebenfalls Bettler, der Eine hatte keine Zunge, der
Andere einen gebrochenen und krumm gebliebenen Fuß und der Dritte war
ebenfalls ein Krüppel."

Wie viel an allen diesen Mittheilungen wahr, läßt sich nicht feststellen.
Gewiß ist, daß bisweilen Kinder von Zigeunern entführt worden sind. Oft
aber wird es nicht geschehen sein, da die Zigeuner gewöhnlich mit eigenen
Kindern reichlich gesegnet sind und daher nicht nöthig haben, sich fremde zu
stehlen und sich die Mühen und Kosten der immer doch ziemlich problema¬
tischen Erziehung zu Seiltänzern u. s. w- aufzubürden.

Die Dieb stähle der Zigeuner, bei denen sie große Gewandheit an den
Tag legen, beschränken sich in der Regel aus Kleinigkeiten, Eßwaaren, Klei¬
dungsstücke, Wäsche u. tgi. Sie sind die Spatzen und Mäuse in der Zunft
der Diebe. Raub und Einbruch ist von ihnen im Allgemeinen nicht zu
fürchten; denn dazu fehlt ihnen die nothwendigste Eigenschaft, der persön¬
liche Muth.

Wie erwähnt, standen die Zigeuner bei ihrem ersten Erscheinen in Deutsch¬
land, wo sie Anfangs als ein einziges ziemlich großes Heer auftraten, unter
einem einzigen Oberhaupt, der sich Herzog, Graf, Woywode, bisweilen auch
König nannte. Der Titel "Zigeunerkönig" hat sich in England erhalten, wo
ein Träger desselben 1841 hoch in den Achtziger das Zeitliche zu segnen ge¬
ruhte. In Deutschland scheint eine so hohe Würde nur im Kopfe mancher
Feuilletonisten, unter den Zigeunern selbst aber nicht zu existiren und ebenso
wenig anderswo auf dem Festlande. Wie die Zigeuner überhaupt, so zer¬
fallen auch die, welche Deutschland durchwandern, nach Liebich in verschiedene
Gruppen, die nicht mit einander in Verbindung stehen. Es giebt nach
diesem Gewährsmann drei Landsmannschaften: die altpreußische, die vorzüglich
in Posen und Schlesien haust, die neupreußische und die hannoversche. Jede
dieser Landsmannschaften hat ihre bestimmten Farben und hält eine bestimmte
Baum- oder Strauchart für heilig. Die Farben der altpreußischen Zigeuner
sind Schwarz und Weiß, und der Baum, den sie verehren, ist die Tanne.
Die Neupreußen führen als Farben Grün und Weiß und halten den Mai¬
baum, d. i. die Birke, für heilig. Die Hannoveraner endlich haben als Na¬
tionalfarben Schwarz, Blau und Gelb und verehren den Mehlbeerbaum,
der beiläufig in der Zigeunersprache Jarriengero Morinengero Ruk heißt.
Wie weit die Ehrfurcht vor diesen Bäumen geht, zeigt die Thatsache, daß


gen Mädchen die Augen ausstechen wollten. Sie hatten das Mädchen wohl
schon verletzt, doch waren die Augen der Sehkraft noch nicht beraubt. Der
Pandur nahm die drei Verbrecher gefangen und befreite das Mädchen, welches
irgendwo gestohlen sein mußte und vermuthlich nur geblendet werden sollte,
damit ihm als einer blinden Bettlerin reichlichere Almosen zuflössen. Die
drei Landstreicher waren ebenfalls Bettler, der Eine hatte keine Zunge, der
Andere einen gebrochenen und krumm gebliebenen Fuß und der Dritte war
ebenfalls ein Krüppel."

Wie viel an allen diesen Mittheilungen wahr, läßt sich nicht feststellen.
Gewiß ist, daß bisweilen Kinder von Zigeunern entführt worden sind. Oft
aber wird es nicht geschehen sein, da die Zigeuner gewöhnlich mit eigenen
Kindern reichlich gesegnet sind und daher nicht nöthig haben, sich fremde zu
stehlen und sich die Mühen und Kosten der immer doch ziemlich problema¬
tischen Erziehung zu Seiltänzern u. s. w- aufzubürden.

Die Dieb stähle der Zigeuner, bei denen sie große Gewandheit an den
Tag legen, beschränken sich in der Regel aus Kleinigkeiten, Eßwaaren, Klei¬
dungsstücke, Wäsche u. tgi. Sie sind die Spatzen und Mäuse in der Zunft
der Diebe. Raub und Einbruch ist von ihnen im Allgemeinen nicht zu
fürchten; denn dazu fehlt ihnen die nothwendigste Eigenschaft, der persön¬
liche Muth.

Wie erwähnt, standen die Zigeuner bei ihrem ersten Erscheinen in Deutsch¬
land, wo sie Anfangs als ein einziges ziemlich großes Heer auftraten, unter
einem einzigen Oberhaupt, der sich Herzog, Graf, Woywode, bisweilen auch
König nannte. Der Titel „Zigeunerkönig" hat sich in England erhalten, wo
ein Träger desselben 1841 hoch in den Achtziger das Zeitliche zu segnen ge¬
ruhte. In Deutschland scheint eine so hohe Würde nur im Kopfe mancher
Feuilletonisten, unter den Zigeunern selbst aber nicht zu existiren und ebenso
wenig anderswo auf dem Festlande. Wie die Zigeuner überhaupt, so zer¬
fallen auch die, welche Deutschland durchwandern, nach Liebich in verschiedene
Gruppen, die nicht mit einander in Verbindung stehen. Es giebt nach
diesem Gewährsmann drei Landsmannschaften: die altpreußische, die vorzüglich
in Posen und Schlesien haust, die neupreußische und die hannoversche. Jede
dieser Landsmannschaften hat ihre bestimmten Farben und hält eine bestimmte
Baum- oder Strauchart für heilig. Die Farben der altpreußischen Zigeuner
sind Schwarz und Weiß, und der Baum, den sie verehren, ist die Tanne.
Die Neupreußen führen als Farben Grün und Weiß und halten den Mai¬
baum, d. i. die Birke, für heilig. Die Hannoveraner endlich haben als Na¬
tionalfarben Schwarz, Blau und Gelb und verehren den Mehlbeerbaum,
der beiläufig in der Zigeunersprache Jarriengero Morinengero Ruk heißt.
Wie weit die Ehrfurcht vor diesen Bäumen geht, zeigt die Thatsache, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/250>, abgerufen am 28.07.2024.