Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

das deutsche Reich steht erst im Entwurf und in seinen Umfassungsmauern
fertig da. während der innere Ausbau durch zahlreiche Einzelgesetze erst ganz
allmählich vollendet werden kann und gleichzeitig sogar die Grundlage gegen
äußere Angriffe und innere Unterwühlung noch fortdauert geschützt und ge¬
stützt werden müssen. Wir dürfen nicht in Abrede stellen, daß der freihändle¬
rische Fortschritt, dessen Hauptträger der volkswirthschaftliche Congreß seit vierzehn
Jahren gewesen ist, in neuester Zeit sehr heftige Angriffe erfahren hat und in
nächster Zukunft voraussichtlich einen harten Stand haben wird. Die Frei¬
heit kann keine idealen Zustände schaffen und der schnelle Uebergang aus un¬
freien in freie Verhältnisse wird überall auch seine Schattenseiten und Unbe¬
quemlichkeiten haben. Es rächt sich jetzt bitter, daß man in Deutschland den
unteren Klassen die Arbeitsfreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfrei-
heit, die Coalitionsfreiheit und verschiedene andere politische und wirthschaft¬
liche Grundrechte so lange vorenthalten hat. Das Volk macht von den so
rasch erworbenen Rechten und Freiheiten nicht überall den wünschenswerthen
Gebrauch, insbesondere hat der gewaltige Zuzug in die großen Städte, die
dort entstandene Wohnungsnoth, der Gründungsschwindel in den höheren
Ständen und die Strikelust in den unteren Ständen viele Leute bedenklich ge¬
macht -- und da kommen nun verschiedene Gelehrte, Bureaukraten und so¬
cialistische Arbeiterführer, um die freie Concurrenz für die Uebel der Gegen¬
wart verantwortlich zu machen und vom deutschen Reiche zu verlangen, daß
es die kranke Zeit auch in socialer Hinsicht durch allerlei Kraftmittel heile,
welche die kaum erworbenen Grundrechte und Freiheiten wieder beschränken
würden, während es umgekehrt gerade jetzt Aufgabe der Wissenschaft und der
practischen Staatskunst ist, die neue wirthschaftliche Reichsgesetzgebung im
Volksbewußtsein zu befestigen und die Massen an die mit den neuen Freihei¬
ten verbundenen Pflichten zu gewöhnen, gleichzeitig aber davor zu warnen,
den Staat mit einer directen Lösung der socialen Frage zu behelligen.

Die Männer des volkswirthschaftlichen Congresses werden sich auf schwere
Kämpfe gefaßt machen müssen, um das Errungene zu behaupten, und das
Vorgefühl der schon erlittenen und noch mehr bevorstehenden Anfechtungen
ist auch in den Verhandlungen des diesjährigen Congresses deutscher Volks¬
wirthe in Danzig in den Tagen vom 26. -- 29. August d. I. zum Ausdruck
gekommen. -- Es war unter den alten Mitgliedern dieses Congresses schon
vorher bekannt geworden, daß die sogenannten Katheder-Socialisten eine
Art volkswirthschaftlichen Gegencongreß beabsichtigen und zu ihrer ersten
Conferenz auf den 6, und 7. October nach Eisenach eingeladen und in der
Einladung die "absoluten Angehörigen der Manchesterschule" oder die An¬
hänger des sogenannten "absoluten laisser tairs et laisser passer" ausge¬
schlossen haben. Man darf auf eine interessante Interpretation des Begriffes


das deutsche Reich steht erst im Entwurf und in seinen Umfassungsmauern
fertig da. während der innere Ausbau durch zahlreiche Einzelgesetze erst ganz
allmählich vollendet werden kann und gleichzeitig sogar die Grundlage gegen
äußere Angriffe und innere Unterwühlung noch fortdauert geschützt und ge¬
stützt werden müssen. Wir dürfen nicht in Abrede stellen, daß der freihändle¬
rische Fortschritt, dessen Hauptträger der volkswirthschaftliche Congreß seit vierzehn
Jahren gewesen ist, in neuester Zeit sehr heftige Angriffe erfahren hat und in
nächster Zukunft voraussichtlich einen harten Stand haben wird. Die Frei¬
heit kann keine idealen Zustände schaffen und der schnelle Uebergang aus un¬
freien in freie Verhältnisse wird überall auch seine Schattenseiten und Unbe¬
quemlichkeiten haben. Es rächt sich jetzt bitter, daß man in Deutschland den
unteren Klassen die Arbeitsfreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfrei-
heit, die Coalitionsfreiheit und verschiedene andere politische und wirthschaft¬
liche Grundrechte so lange vorenthalten hat. Das Volk macht von den so
rasch erworbenen Rechten und Freiheiten nicht überall den wünschenswerthen
Gebrauch, insbesondere hat der gewaltige Zuzug in die großen Städte, die
dort entstandene Wohnungsnoth, der Gründungsschwindel in den höheren
Ständen und die Strikelust in den unteren Ständen viele Leute bedenklich ge¬
macht — und da kommen nun verschiedene Gelehrte, Bureaukraten und so¬
cialistische Arbeiterführer, um die freie Concurrenz für die Uebel der Gegen¬
wart verantwortlich zu machen und vom deutschen Reiche zu verlangen, daß
es die kranke Zeit auch in socialer Hinsicht durch allerlei Kraftmittel heile,
welche die kaum erworbenen Grundrechte und Freiheiten wieder beschränken
würden, während es umgekehrt gerade jetzt Aufgabe der Wissenschaft und der
practischen Staatskunst ist, die neue wirthschaftliche Reichsgesetzgebung im
Volksbewußtsein zu befestigen und die Massen an die mit den neuen Freihei¬
ten verbundenen Pflichten zu gewöhnen, gleichzeitig aber davor zu warnen,
den Staat mit einer directen Lösung der socialen Frage zu behelligen.

Die Männer des volkswirthschaftlichen Congresses werden sich auf schwere
Kämpfe gefaßt machen müssen, um das Errungene zu behaupten, und das
Vorgefühl der schon erlittenen und noch mehr bevorstehenden Anfechtungen
ist auch in den Verhandlungen des diesjährigen Congresses deutscher Volks¬
wirthe in Danzig in den Tagen vom 26. — 29. August d. I. zum Ausdruck
gekommen. — Es war unter den alten Mitgliedern dieses Congresses schon
vorher bekannt geworden, daß die sogenannten Katheder-Socialisten eine
Art volkswirthschaftlichen Gegencongreß beabsichtigen und zu ihrer ersten
Conferenz auf den 6, und 7. October nach Eisenach eingeladen und in der
Einladung die „absoluten Angehörigen der Manchesterschule" oder die An¬
hänger des sogenannten „absoluten laisser tairs et laisser passer" ausge¬
schlossen haben. Man darf auf eine interessante Interpretation des Begriffes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128478"/>
          <p xml:id="ID_46" prev="#ID_45"> das deutsche Reich steht erst im Entwurf und in seinen Umfassungsmauern<lb/>
fertig da. während der innere Ausbau durch zahlreiche Einzelgesetze erst ganz<lb/>
allmählich vollendet werden kann und gleichzeitig sogar die Grundlage gegen<lb/>
äußere Angriffe und innere Unterwühlung noch fortdauert geschützt und ge¬<lb/>
stützt werden müssen. Wir dürfen nicht in Abrede stellen, daß der freihändle¬<lb/>
rische Fortschritt, dessen Hauptträger der volkswirthschaftliche Congreß seit vierzehn<lb/>
Jahren gewesen ist, in neuester Zeit sehr heftige Angriffe erfahren hat und in<lb/>
nächster Zukunft voraussichtlich einen harten Stand haben wird. Die Frei¬<lb/>
heit kann keine idealen Zustände schaffen und der schnelle Uebergang aus un¬<lb/>
freien in freie Verhältnisse wird überall auch seine Schattenseiten und Unbe¬<lb/>
quemlichkeiten haben. Es rächt sich jetzt bitter, daß man in Deutschland den<lb/>
unteren Klassen die Arbeitsfreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfrei-<lb/>
heit, die Coalitionsfreiheit und verschiedene andere politische und wirthschaft¬<lb/>
liche Grundrechte so lange vorenthalten hat. Das Volk macht von den so<lb/>
rasch erworbenen Rechten und Freiheiten nicht überall den wünschenswerthen<lb/>
Gebrauch, insbesondere hat der gewaltige Zuzug in die großen Städte, die<lb/>
dort entstandene Wohnungsnoth, der Gründungsschwindel in den höheren<lb/>
Ständen und die Strikelust in den unteren Ständen viele Leute bedenklich ge¬<lb/>
macht &#x2014; und da kommen nun verschiedene Gelehrte, Bureaukraten und so¬<lb/>
cialistische Arbeiterführer, um die freie Concurrenz für die Uebel der Gegen¬<lb/>
wart verantwortlich zu machen und vom deutschen Reiche zu verlangen, daß<lb/>
es die kranke Zeit auch in socialer Hinsicht durch allerlei Kraftmittel heile,<lb/>
welche die kaum erworbenen Grundrechte und Freiheiten wieder beschränken<lb/>
würden, während es umgekehrt gerade jetzt Aufgabe der Wissenschaft und der<lb/>
practischen Staatskunst ist, die neue wirthschaftliche Reichsgesetzgebung im<lb/>
Volksbewußtsein zu befestigen und die Massen an die mit den neuen Freihei¬<lb/>
ten verbundenen Pflichten zu gewöhnen, gleichzeitig aber davor zu warnen,<lb/>
den Staat mit einer directen Lösung der socialen Frage zu behelligen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_47" next="#ID_48"> Die Männer des volkswirthschaftlichen Congresses werden sich auf schwere<lb/>
Kämpfe gefaßt machen müssen, um das Errungene zu behaupten, und das<lb/>
Vorgefühl der schon erlittenen und noch mehr bevorstehenden Anfechtungen<lb/>
ist auch in den Verhandlungen des diesjährigen Congresses deutscher Volks¬<lb/>
wirthe in Danzig in den Tagen vom 26. &#x2014; 29. August d. I. zum Ausdruck<lb/>
gekommen. &#x2014; Es war unter den alten Mitgliedern dieses Congresses schon<lb/>
vorher bekannt geworden, daß die sogenannten Katheder-Socialisten eine<lb/>
Art volkswirthschaftlichen Gegencongreß beabsichtigen und zu ihrer ersten<lb/>
Conferenz auf den 6, und 7. October nach Eisenach eingeladen und in der<lb/>
Einladung die &#x201E;absoluten Angehörigen der Manchesterschule" oder die An¬<lb/>
hänger des sogenannten &#x201E;absoluten laisser tairs et laisser passer" ausge¬<lb/>
schlossen haben. Man darf auf eine interessante Interpretation des Begriffes</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] das deutsche Reich steht erst im Entwurf und in seinen Umfassungsmauern fertig da. während der innere Ausbau durch zahlreiche Einzelgesetze erst ganz allmählich vollendet werden kann und gleichzeitig sogar die Grundlage gegen äußere Angriffe und innere Unterwühlung noch fortdauert geschützt und ge¬ stützt werden müssen. Wir dürfen nicht in Abrede stellen, daß der freihändle¬ rische Fortschritt, dessen Hauptträger der volkswirthschaftliche Congreß seit vierzehn Jahren gewesen ist, in neuester Zeit sehr heftige Angriffe erfahren hat und in nächster Zukunft voraussichtlich einen harten Stand haben wird. Die Frei¬ heit kann keine idealen Zustände schaffen und der schnelle Uebergang aus un¬ freien in freie Verhältnisse wird überall auch seine Schattenseiten und Unbe¬ quemlichkeiten haben. Es rächt sich jetzt bitter, daß man in Deutschland den unteren Klassen die Arbeitsfreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfrei- heit, die Coalitionsfreiheit und verschiedene andere politische und wirthschaft¬ liche Grundrechte so lange vorenthalten hat. Das Volk macht von den so rasch erworbenen Rechten und Freiheiten nicht überall den wünschenswerthen Gebrauch, insbesondere hat der gewaltige Zuzug in die großen Städte, die dort entstandene Wohnungsnoth, der Gründungsschwindel in den höheren Ständen und die Strikelust in den unteren Ständen viele Leute bedenklich ge¬ macht — und da kommen nun verschiedene Gelehrte, Bureaukraten und so¬ cialistische Arbeiterführer, um die freie Concurrenz für die Uebel der Gegen¬ wart verantwortlich zu machen und vom deutschen Reiche zu verlangen, daß es die kranke Zeit auch in socialer Hinsicht durch allerlei Kraftmittel heile, welche die kaum erworbenen Grundrechte und Freiheiten wieder beschränken würden, während es umgekehrt gerade jetzt Aufgabe der Wissenschaft und der practischen Staatskunst ist, die neue wirthschaftliche Reichsgesetzgebung im Volksbewußtsein zu befestigen und die Massen an die mit den neuen Freihei¬ ten verbundenen Pflichten zu gewöhnen, gleichzeitig aber davor zu warnen, den Staat mit einer directen Lösung der socialen Frage zu behelligen. Die Männer des volkswirthschaftlichen Congresses werden sich auf schwere Kämpfe gefaßt machen müssen, um das Errungene zu behaupten, und das Vorgefühl der schon erlittenen und noch mehr bevorstehenden Anfechtungen ist auch in den Verhandlungen des diesjährigen Congresses deutscher Volks¬ wirthe in Danzig in den Tagen vom 26. — 29. August d. I. zum Ausdruck gekommen. — Es war unter den alten Mitgliedern dieses Congresses schon vorher bekannt geworden, daß die sogenannten Katheder-Socialisten eine Art volkswirthschaftlichen Gegencongreß beabsichtigen und zu ihrer ersten Conferenz auf den 6, und 7. October nach Eisenach eingeladen und in der Einladung die „absoluten Angehörigen der Manchesterschule" oder die An¬ hänger des sogenannten „absoluten laisser tairs et laisser passer" ausge¬ schlossen haben. Man darf auf eine interessante Interpretation des Begriffes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/24>, abgerufen am 22.07.2024.