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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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levös en masse in der vollsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes:
wie er dasselbe verstand. Die ihm zu Gebote stehenden Menschenmassen be¬
rechnete er nach den Angaben des "?roZrös <Ze I^on" wie folgt:

Die Mobilgarde (alle Mann von 20 bis 26 Jahren) wenigstens S00.000.
Die Classe von 1869: 80,000 Mann; die Classe von 1870: 240,000 Mann.
Das macht schon 820,000 Soldaten. Rechnet man hierzu die wieder einbe¬
rufenen Militairs bis zu 33 Jahren, die Freiwilligen, die Franctireurs und
die mobilistrte Nationalgarde, so erreicht man leicht die Zahl von 1 Million
200 Tausend Mann, "jung, thätig, voll soldatischen Eifers". Um dieses Re¬
sultat zu erzielen, erließ die Regierung in Tours das bekannte Decret
über das Massenaufgebot vom 2. November 1870,*)

Dieses Decret übertrifft alle Forderungen des berühmten Augustgesetzes
von 1793. Ebenso wenig wie dies letztere aber eine w ah re Is oss s n masss
hervorgebracht, d. h. eine tumultuarische und allgemeine Bewegung von kurzer
Dauer, welche alle waffenfähigen Menschen in freiwilligem Massensturm auf
den Feind sich stürzen läßt, ebenso wenig hatte das Decret Gambetta's diesen
Erfolg. 1793 und 1870 sind es Requisitionen, Aufgebote, um die es
sich handelt, und wenn man sich das klar macht, so kann man nicht umhin, dar¬
über zu staunen, wie gehorsamgewöhnt sich die französische Nation, die im Ein¬
zelnen und bei Kleinigkeiten so rebellisch und frech erscheint, jenen ungeheueren
und umfassenden Anforderungen gegenüber darstellt. Die Regierung der Na¬
tionalvertheidigung begehrte mehr als der Convent; es standen ihr die Schreck¬
mittel des letzteren nicht zur Verfügung und dennoch ist die Leistung der
Nation 1870/71 eine mindestens gleich große wie 1793/94. -- Der militärische
Geist der Franzosen hatte 1870 den offenen Bankerott erlebt, der kriegerische
Geist des Volks erwies sich vollauf zahlungsfähig. Aber es zeigte sich auch
wieder, daß dieser allein nicht ausreicht, um Heere zu schaffen, und daß die
innige Verbindung kriegerischen und militärischen Geistes dazu gehört, um
beharrlich zu siegen.

Seit dem Novemberdecret lag der Hauptaccent der französischen Landes¬
vertheidigung durchaus auf der Hilfs-Armee. Sie zerfiel in folgende Ka¬
tegorien:

1. Die mobile Nationalgarde. Die einzelnen Bataillone in provisorische Infan¬
terie-Regimenter, die Artillerie-Compagnien zum Theil in provisorische Artillerie-Regi¬
menter zusammengestellt. 2. Der mobilisirte Theil der seßhaften Nationalgarde, zum
Theil in Legionen formirt. 3. Der Nest der seßhaften Nationalgarde, ohne erkennbare
Formation, als in einzelnen Bataillonen. 4. Verschiedene Legionen, wie die irländische



") Welches die Grenzboten in dem Avnkel "Unter der Kriegsdictatm Gambetta's" (lit.
Quartal. 1872) ausführlicher behandelt haben.

levös en masse in der vollsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes:
wie er dasselbe verstand. Die ihm zu Gebote stehenden Menschenmassen be¬
rechnete er nach den Angaben des „?roZrös <Ze I^on" wie folgt:

Die Mobilgarde (alle Mann von 20 bis 26 Jahren) wenigstens S00.000.
Die Classe von 1869: 80,000 Mann; die Classe von 1870: 240,000 Mann.
Das macht schon 820,000 Soldaten. Rechnet man hierzu die wieder einbe¬
rufenen Militairs bis zu 33 Jahren, die Freiwilligen, die Franctireurs und
die mobilistrte Nationalgarde, so erreicht man leicht die Zahl von 1 Million
200 Tausend Mann, „jung, thätig, voll soldatischen Eifers". Um dieses Re¬
sultat zu erzielen, erließ die Regierung in Tours das bekannte Decret
über das Massenaufgebot vom 2. November 1870,*)

Dieses Decret übertrifft alle Forderungen des berühmten Augustgesetzes
von 1793. Ebenso wenig wie dies letztere aber eine w ah re Is oss s n masss
hervorgebracht, d. h. eine tumultuarische und allgemeine Bewegung von kurzer
Dauer, welche alle waffenfähigen Menschen in freiwilligem Massensturm auf
den Feind sich stürzen läßt, ebenso wenig hatte das Decret Gambetta's diesen
Erfolg. 1793 und 1870 sind es Requisitionen, Aufgebote, um die es
sich handelt, und wenn man sich das klar macht, so kann man nicht umhin, dar¬
über zu staunen, wie gehorsamgewöhnt sich die französische Nation, die im Ein¬
zelnen und bei Kleinigkeiten so rebellisch und frech erscheint, jenen ungeheueren
und umfassenden Anforderungen gegenüber darstellt. Die Regierung der Na¬
tionalvertheidigung begehrte mehr als der Convent; es standen ihr die Schreck¬
mittel des letzteren nicht zur Verfügung und dennoch ist die Leistung der
Nation 1870/71 eine mindestens gleich große wie 1793/94. — Der militärische
Geist der Franzosen hatte 1870 den offenen Bankerott erlebt, der kriegerische
Geist des Volks erwies sich vollauf zahlungsfähig. Aber es zeigte sich auch
wieder, daß dieser allein nicht ausreicht, um Heere zu schaffen, und daß die
innige Verbindung kriegerischen und militärischen Geistes dazu gehört, um
beharrlich zu siegen.

Seit dem Novemberdecret lag der Hauptaccent der französischen Landes¬
vertheidigung durchaus auf der Hilfs-Armee. Sie zerfiel in folgende Ka¬
tegorien:

1. Die mobile Nationalgarde. Die einzelnen Bataillone in provisorische Infan¬
terie-Regimenter, die Artillerie-Compagnien zum Theil in provisorische Artillerie-Regi¬
menter zusammengestellt. 2. Der mobilisirte Theil der seßhaften Nationalgarde, zum
Theil in Legionen formirt. 3. Der Nest der seßhaften Nationalgarde, ohne erkennbare
Formation, als in einzelnen Bataillonen. 4. Verschiedene Legionen, wie die irländische



") Welches die Grenzboten in dem Avnkel „Unter der Kriegsdictatm Gambetta's" (lit.
Quartal. 1872) ausführlicher behandelt haben.
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[0229] levös en masse in der vollsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes: wie er dasselbe verstand. Die ihm zu Gebote stehenden Menschenmassen be¬ rechnete er nach den Angaben des „?roZrös <Ze I^on" wie folgt: Die Mobilgarde (alle Mann von 20 bis 26 Jahren) wenigstens S00.000. Die Classe von 1869: 80,000 Mann; die Classe von 1870: 240,000 Mann. Das macht schon 820,000 Soldaten. Rechnet man hierzu die wieder einbe¬ rufenen Militairs bis zu 33 Jahren, die Freiwilligen, die Franctireurs und die mobilistrte Nationalgarde, so erreicht man leicht die Zahl von 1 Million 200 Tausend Mann, „jung, thätig, voll soldatischen Eifers". Um dieses Re¬ sultat zu erzielen, erließ die Regierung in Tours das bekannte Decret über das Massenaufgebot vom 2. November 1870,*) Dieses Decret übertrifft alle Forderungen des berühmten Augustgesetzes von 1793. Ebenso wenig wie dies letztere aber eine w ah re Is oss s n masss hervorgebracht, d. h. eine tumultuarische und allgemeine Bewegung von kurzer Dauer, welche alle waffenfähigen Menschen in freiwilligem Massensturm auf den Feind sich stürzen läßt, ebenso wenig hatte das Decret Gambetta's diesen Erfolg. 1793 und 1870 sind es Requisitionen, Aufgebote, um die es sich handelt, und wenn man sich das klar macht, so kann man nicht umhin, dar¬ über zu staunen, wie gehorsamgewöhnt sich die französische Nation, die im Ein¬ zelnen und bei Kleinigkeiten so rebellisch und frech erscheint, jenen ungeheueren und umfassenden Anforderungen gegenüber darstellt. Die Regierung der Na¬ tionalvertheidigung begehrte mehr als der Convent; es standen ihr die Schreck¬ mittel des letzteren nicht zur Verfügung und dennoch ist die Leistung der Nation 1870/71 eine mindestens gleich große wie 1793/94. — Der militärische Geist der Franzosen hatte 1870 den offenen Bankerott erlebt, der kriegerische Geist des Volks erwies sich vollauf zahlungsfähig. Aber es zeigte sich auch wieder, daß dieser allein nicht ausreicht, um Heere zu schaffen, und daß die innige Verbindung kriegerischen und militärischen Geistes dazu gehört, um beharrlich zu siegen. Seit dem Novemberdecret lag der Hauptaccent der französischen Landes¬ vertheidigung durchaus auf der Hilfs-Armee. Sie zerfiel in folgende Ka¬ tegorien: 1. Die mobile Nationalgarde. Die einzelnen Bataillone in provisorische Infan¬ terie-Regimenter, die Artillerie-Compagnien zum Theil in provisorische Artillerie-Regi¬ menter zusammengestellt. 2. Der mobilisirte Theil der seßhaften Nationalgarde, zum Theil in Legionen formirt. 3. Der Nest der seßhaften Nationalgarde, ohne erkennbare Formation, als in einzelnen Bataillonen. 4. Verschiedene Legionen, wie die irländische ") Welches die Grenzboten in dem Avnkel „Unter der Kriegsdictatm Gambetta's" (lit. Quartal. 1872) ausführlicher behandelt haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/229>, abgerufen am 22.07.2024.