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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Am 9. October kam Gambetta; welcher mit außerordentlichen Voll¬
machten seiner College" bei der Regierung versehn, Paris im Luftballon ver¬
lassen hatte, in Tours an, um sich an die Spitze der Vertheidigung zu stellen.
Er übernahm die beiden Ministerien des Kriegs und des Innern und er¬
nannte im Bereiche des ersteren den Civil-Jngenieur Charles de Freycinet zu
seinem Delegirten.

Die militärische Situation war in diesem Augenblick die folgende:
Paris und Metz waren blokirt. -- Die Loire-Armee (nur noch 25,000 Mann)
bei Artenay und bald darauf bei Orleans geschlagen, begann einen Rückzug,
der erst im Innern der Sologne endete. -- Die Armee des Generals Cam-
briels (auf 24,000 Mann zusammengeschmolzen) gab die Vogesen auf und
suchte in Besancon Schutz. *) Im Westen befanden sich unter Ke'ratry
30,000 Mann mobiler Nationalgarde, nur nothdürftigst ausgerüstet und en-
cadrirt, ohne Cavallerie und Artillerie. Sie bildeten von Chartres bis Ev-
reux eine schwache, widerstandsunfähige Vertheidigungslinie. -- Im Norden
befanden sich zwar in den festen Plätzen Garnisonen, doch keine Truppen im
freien Felde. Alles in Allem zählte man etwa 40,000 Mann reguläre In¬
fanterie, 40,000 Mobilgarden, 6000 Reiter und 100 Geschütze. -- In ad¬
ministrativer Beziehung war die Lage nicht beruhigender, und die Einrich¬
tung des Kriegsministeriums in Tours stieß auf die größten Schwie¬
rigkeiten. Das Cabinet des Ministers, ein Ausschuß zur Erforschung der
Vertheidigungsmittel, Directionen der Infanterie, Artillerie und des Genies,
Intendantur, Sanitätsdienst, Rechnungswesen -- alles mußte neu geschaffen
werden. Ein Kundschaftsamt wurde eingerichtet und besondere Wichtigkeit
und Ausdehnung erhielt das Kartenamt, welches während der vier letzten
Monate des Krieges 15,000 Karten an die Generalstabe vertheilte, die deren
bis dahin vollständig entbehrt hatten.

Mitte October wurde Frankreich in vier militärische Regionen
eingetheilt:

1. Nord-Region: General Bourbaki zu Lille, rechts der Seine. 2. West-Re-
gion: General Fiereck zu Le Maus. 3. Central-Region: General de Pohles zu
Bourges. 4. Ost-Region: General Cambriels.

Ein Regierungsdecret vom 28. October ertheilte den aus Depottruppen
formirter 39 Marschregimentern die Bezeichnung als Linien-Jnfan-
terie-Regimenter mit den Nummern 101 bis 193; Gambetta war je¬
doch weit entfernt, sich vorzugsweise auf diese Rudimente oder Ableger der
alten Armee stützen zu wollen. Was er durchsetzen wollte, das war die



") Das Corps Garibaldi's war in den Anfängen seiner Organisation begriffen und
die Stellung des italienischen Condottieri zu den französischen Befehlshabern war von Anfang
an eine schiefe.

Am 9. October kam Gambetta; welcher mit außerordentlichen Voll¬
machten seiner College« bei der Regierung versehn, Paris im Luftballon ver¬
lassen hatte, in Tours an, um sich an die Spitze der Vertheidigung zu stellen.
Er übernahm die beiden Ministerien des Kriegs und des Innern und er¬
nannte im Bereiche des ersteren den Civil-Jngenieur Charles de Freycinet zu
seinem Delegirten.

Die militärische Situation war in diesem Augenblick die folgende:
Paris und Metz waren blokirt. — Die Loire-Armee (nur noch 25,000 Mann)
bei Artenay und bald darauf bei Orleans geschlagen, begann einen Rückzug,
der erst im Innern der Sologne endete. — Die Armee des Generals Cam-
briels (auf 24,000 Mann zusammengeschmolzen) gab die Vogesen auf und
suchte in Besancon Schutz. *) Im Westen befanden sich unter Ke'ratry
30,000 Mann mobiler Nationalgarde, nur nothdürftigst ausgerüstet und en-
cadrirt, ohne Cavallerie und Artillerie. Sie bildeten von Chartres bis Ev-
reux eine schwache, widerstandsunfähige Vertheidigungslinie. — Im Norden
befanden sich zwar in den festen Plätzen Garnisonen, doch keine Truppen im
freien Felde. Alles in Allem zählte man etwa 40,000 Mann reguläre In¬
fanterie, 40,000 Mobilgarden, 6000 Reiter und 100 Geschütze. — In ad¬
ministrativer Beziehung war die Lage nicht beruhigender, und die Einrich¬
tung des Kriegsministeriums in Tours stieß auf die größten Schwie¬
rigkeiten. Das Cabinet des Ministers, ein Ausschuß zur Erforschung der
Vertheidigungsmittel, Directionen der Infanterie, Artillerie und des Genies,
Intendantur, Sanitätsdienst, Rechnungswesen — alles mußte neu geschaffen
werden. Ein Kundschaftsamt wurde eingerichtet und besondere Wichtigkeit
und Ausdehnung erhielt das Kartenamt, welches während der vier letzten
Monate des Krieges 15,000 Karten an die Generalstabe vertheilte, die deren
bis dahin vollständig entbehrt hatten.

Mitte October wurde Frankreich in vier militärische Regionen
eingetheilt:

1. Nord-Region: General Bourbaki zu Lille, rechts der Seine. 2. West-Re-
gion: General Fiereck zu Le Maus. 3. Central-Region: General de Pohles zu
Bourges. 4. Ost-Region: General Cambriels.

Ein Regierungsdecret vom 28. October ertheilte den aus Depottruppen
formirter 39 Marschregimentern die Bezeichnung als Linien-Jnfan-
terie-Regimenter mit den Nummern 101 bis 193; Gambetta war je¬
doch weit entfernt, sich vorzugsweise auf diese Rudimente oder Ableger der
alten Armee stützen zu wollen. Was er durchsetzen wollte, das war die



") Das Corps Garibaldi's war in den Anfängen seiner Organisation begriffen und
die Stellung des italienischen Condottieri zu den französischen Befehlshabern war von Anfang
an eine schiefe.
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[0228] Am 9. October kam Gambetta; welcher mit außerordentlichen Voll¬ machten seiner College« bei der Regierung versehn, Paris im Luftballon ver¬ lassen hatte, in Tours an, um sich an die Spitze der Vertheidigung zu stellen. Er übernahm die beiden Ministerien des Kriegs und des Innern und er¬ nannte im Bereiche des ersteren den Civil-Jngenieur Charles de Freycinet zu seinem Delegirten. Die militärische Situation war in diesem Augenblick die folgende: Paris und Metz waren blokirt. — Die Loire-Armee (nur noch 25,000 Mann) bei Artenay und bald darauf bei Orleans geschlagen, begann einen Rückzug, der erst im Innern der Sologne endete. — Die Armee des Generals Cam- briels (auf 24,000 Mann zusammengeschmolzen) gab die Vogesen auf und suchte in Besancon Schutz. *) Im Westen befanden sich unter Ke'ratry 30,000 Mann mobiler Nationalgarde, nur nothdürftigst ausgerüstet und en- cadrirt, ohne Cavallerie und Artillerie. Sie bildeten von Chartres bis Ev- reux eine schwache, widerstandsunfähige Vertheidigungslinie. — Im Norden befanden sich zwar in den festen Plätzen Garnisonen, doch keine Truppen im freien Felde. Alles in Allem zählte man etwa 40,000 Mann reguläre In¬ fanterie, 40,000 Mobilgarden, 6000 Reiter und 100 Geschütze. — In ad¬ ministrativer Beziehung war die Lage nicht beruhigender, und die Einrich¬ tung des Kriegsministeriums in Tours stieß auf die größten Schwie¬ rigkeiten. Das Cabinet des Ministers, ein Ausschuß zur Erforschung der Vertheidigungsmittel, Directionen der Infanterie, Artillerie und des Genies, Intendantur, Sanitätsdienst, Rechnungswesen — alles mußte neu geschaffen werden. Ein Kundschaftsamt wurde eingerichtet und besondere Wichtigkeit und Ausdehnung erhielt das Kartenamt, welches während der vier letzten Monate des Krieges 15,000 Karten an die Generalstabe vertheilte, die deren bis dahin vollständig entbehrt hatten. Mitte October wurde Frankreich in vier militärische Regionen eingetheilt: 1. Nord-Region: General Bourbaki zu Lille, rechts der Seine. 2. West-Re- gion: General Fiereck zu Le Maus. 3. Central-Region: General de Pohles zu Bourges. 4. Ost-Region: General Cambriels. Ein Regierungsdecret vom 28. October ertheilte den aus Depottruppen formirter 39 Marschregimentern die Bezeichnung als Linien-Jnfan- terie-Regimenter mit den Nummern 101 bis 193; Gambetta war je¬ doch weit entfernt, sich vorzugsweise auf diese Rudimente oder Ableger der alten Armee stützen zu wollen. Was er durchsetzen wollte, das war die ") Das Corps Garibaldi's war in den Anfängen seiner Organisation begriffen und die Stellung des italienischen Condottieri zu den französischen Befehlshabern war von Anfang an eine schiefe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/228>, abgerufen am 22.07.2024.