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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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rothe. Die Männer sind meist schöner oder, wenn man will, weniger häßlich
als die Frauen, die überdieß sehr rasch verblühen. Doch kommen unter letz¬
teren auch Schönheiten vor, wie denn die Fürstin Gagarin und die Gräfin
Tolstoi, wenigstens durch ihre Mutter, vielleicht durch beide Eltern, diesem
Wandervolke angehören und ihre Erhebung zu so hohem Range sicher nur
körperlichen Vorzügen verdanken. "Welches Land sie auch bewohnen",
sagt Gerando von den Zigeunern, "unter welchem Volke sie auch ihr
Lager aufschlagen, überall zeigen sie dieselben Gewohnheiten, dieselben
Laster. Ueber das ganze Festland ausgebreitet und unter verschiedenen
Völkern lebend, hat dieser zerstreute Menschenstamm einen eigenthümlichen
Character bewahrt, der sich nirgends verleugnet. Er bleibt der Bewegung,
welche die Menschen um ihn fortreißt, stets fremd, und zwischen den Zigeu¬
nern in Ungarn und denen in den französischen Pyrenäen-Departements läßt
sich kein Unterschied entdecken."

Der Zigeuner selbst bezeichnet sich überall mit den Worten "Rom" oder
"Romimanusch" (Zigeunermensch) oder "Galo" (der Schwarze) oder "Dades-
kero Tschawo" (des Vaters Sohn). Ueberall hält er an seiner alten Sitte
und Sprache fest. Sehr selten geschieht es, daß er außer seinem Stamme
heirathet. Ohne seine Muttersprache je aufzugeben, eignet er sich sehr leicht
andere Sprachen an, und so kommt es, daß viele Zigeuner neben jener noch
deutsch und polnisch, russisch und französisch, italienisch und spanisch verstehen
und sprechen. Besitzen sie bei ihrem Nomadenleben nur sehr selten einige
Schulbildung, so fehlt es ihnen bei ihrer scharfen Beobachtungsgabe und
ihrem halben. Verstände doch keineswegs an Kenntnissen, wie sie das Leben
unter allerlei Menschen und Verhältnissen darbietet. Von Hause aus
furchtsam und feig*), ist der Zigeuner zum eigentlichen Kriegsdienst
wenig brauchbar. Dagegen leistet er als Spion gute Dienste, voraus¬
gesetzt, daß er sich nicht etwa beiden Theilen verkauft hat. Hervor¬
stechende Eigenschaften desselben sind serner Dreistigkeit und Frechheit gegen
solche, denen er damit imponiren zu können glaubt, und Geschmeidigkeit und
Unterwürfigkeit gegenüber denen, die ihm als Mächtige erscheinen. Immer
dankt er solchen, wenn sie ihm eine Rücksicht oder Wohlthat erwiesen haben,
mit Kniebeugung und Handkuß. Seine Begehrlichkeit artet Schwachen gegen¬
über in den meisten Fällen in Unverschämtheit aus. Seine Kinder liebt er
so zärtlich, daß er sie trotz seines cholerischen Temperaments sür ihre Unarten
fast niemals züchtigt. Die Ehrliebe des civilistrten Menschen ist ihm eben so



') Wir folgen hier und im größeren Theile des Nachstehenden dem aus eigener Erfahrung
geschöpften Buche Liebich's "Die Zigeuner in ihrem Wesen und ihrer Sprache" (Leipzig, Brock¬
haus. 1863).

rothe. Die Männer sind meist schöner oder, wenn man will, weniger häßlich
als die Frauen, die überdieß sehr rasch verblühen. Doch kommen unter letz¬
teren auch Schönheiten vor, wie denn die Fürstin Gagarin und die Gräfin
Tolstoi, wenigstens durch ihre Mutter, vielleicht durch beide Eltern, diesem
Wandervolke angehören und ihre Erhebung zu so hohem Range sicher nur
körperlichen Vorzügen verdanken. „Welches Land sie auch bewohnen",
sagt Gerando von den Zigeunern, „unter welchem Volke sie auch ihr
Lager aufschlagen, überall zeigen sie dieselben Gewohnheiten, dieselben
Laster. Ueber das ganze Festland ausgebreitet und unter verschiedenen
Völkern lebend, hat dieser zerstreute Menschenstamm einen eigenthümlichen
Character bewahrt, der sich nirgends verleugnet. Er bleibt der Bewegung,
welche die Menschen um ihn fortreißt, stets fremd, und zwischen den Zigeu¬
nern in Ungarn und denen in den französischen Pyrenäen-Departements läßt
sich kein Unterschied entdecken."

Der Zigeuner selbst bezeichnet sich überall mit den Worten „Rom" oder
„Romimanusch" (Zigeunermensch) oder „Galo" (der Schwarze) oder „Dades-
kero Tschawo" (des Vaters Sohn). Ueberall hält er an seiner alten Sitte
und Sprache fest. Sehr selten geschieht es, daß er außer seinem Stamme
heirathet. Ohne seine Muttersprache je aufzugeben, eignet er sich sehr leicht
andere Sprachen an, und so kommt es, daß viele Zigeuner neben jener noch
deutsch und polnisch, russisch und französisch, italienisch und spanisch verstehen
und sprechen. Besitzen sie bei ihrem Nomadenleben nur sehr selten einige
Schulbildung, so fehlt es ihnen bei ihrer scharfen Beobachtungsgabe und
ihrem halben. Verstände doch keineswegs an Kenntnissen, wie sie das Leben
unter allerlei Menschen und Verhältnissen darbietet. Von Hause aus
furchtsam und feig*), ist der Zigeuner zum eigentlichen Kriegsdienst
wenig brauchbar. Dagegen leistet er als Spion gute Dienste, voraus¬
gesetzt, daß er sich nicht etwa beiden Theilen verkauft hat. Hervor¬
stechende Eigenschaften desselben sind serner Dreistigkeit und Frechheit gegen
solche, denen er damit imponiren zu können glaubt, und Geschmeidigkeit und
Unterwürfigkeit gegenüber denen, die ihm als Mächtige erscheinen. Immer
dankt er solchen, wenn sie ihm eine Rücksicht oder Wohlthat erwiesen haben,
mit Kniebeugung und Handkuß. Seine Begehrlichkeit artet Schwachen gegen¬
über in den meisten Fällen in Unverschämtheit aus. Seine Kinder liebt er
so zärtlich, daß er sie trotz seines cholerischen Temperaments sür ihre Unarten
fast niemals züchtigt. Die Ehrliebe des civilistrten Menschen ist ihm eben so



') Wir folgen hier und im größeren Theile des Nachstehenden dem aus eigener Erfahrung
geschöpften Buche Liebich's „Die Zigeuner in ihrem Wesen und ihrer Sprache" (Leipzig, Brock¬
haus. 1863).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/212>, abgerufen am 04.07.2024.