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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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gänglichkeit. Beide müssen den Producten der nordischen Poesie fehlen, denn
ihr Charakter ist eben das vollständige Unberührtsein von der Weltcultur,
entweder weil diese wirklich nicht bis in den isolirten Norden gedrungen war,
oder weil dieser sich so lange in starrer Spröde gegen ihre gelegentlich an ihn
herandringenden Ausläufer, seien sie nun Christenthum oder die Romantik des
ritterlichen Idealismus, zur Wehre setzte.

Auch dem Norden ist es nicht möglich gewesen sich in seiner geistigen
Jsolirung zu behaupten, aber das was wir altnordische Poesie nennen, ge¬
hört auch dann noch dem früheren Zustand an, wenn es der Zeit nach schon
häufig aus einer wesentlich veränderten Umgebung des ganzen Lebens stammt.
Die nordischen Statten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts dichteten
in streng festgehaltener Tradition des Geistes und der Formen der Vergangen¬
heit gerade noch so wie einige Jahrhunderte vorher, als der Name und der Dienst des
Odin, Thor und Tyr noch eine Realität und nicht bloß eine Grimasse war.
Aehnlich wie die lateinische Poesie der Renaissance und was davon berührt
ist, den Apparat der antiken Kunst durch pure Reflexion aus dem Grabe herauf¬
beschwor und damit das erreichte, was erreicht werden mußte, Gespenster zu
scheinbarem Leben zu verkleiden, haben es auch jene altnordischen Dichter ge¬
than, nur daß es ihnen leichter gemacht war, weil sie innerhalb einer sorgfältig
gepflegten und niemals unterbrochenen Tradition standen. Aber ihre Wirkung
auf uns ist dieselbe, wie der andern, oder vielmehr eine noch viel fremdartigere,
weil der Apparat von poetischen Hülfsmitteln, mit denen die klassischeRenaissaneen-
poesie operirt, uns von der Schule her wohl bekannt ist, während wir uns
in den an sich noch viel complicirteren Apparat ihrer nordischen Wahlver¬
wandten erst durch mühsame Studien hineinarbeiten müssen.

Auch die eigentlichen Kenner werden aber darum hier immer sparsam zu
finden sein, weil man sich nur in Folge ganz besonderer Anregung oder Ver¬
anlassung in einen so fremdartigen 'Kreis begeben kann. Wer sich zu ge¬
schichtlichen, literarischen, ästhetischen oder linguistischen Studien bestimmt fühlt,
erhält, wie die Erfahrung zeigt, feine besondere Richtung innerhalb der allge¬
meineren Sphäre gewöhnlich nicht durch einen selbständigen Zug oder Jn-
stinct des eigenen Geistes, sondern durch den Einfluß maßgebender Persönlich¬
keiten, epochemachender wissenschaftlicher Leistungen, kurz von Andern und
von außen her. Je intensiver die gelehrte Thätigkeit innerhalb eines be¬
stimmten Feldes ist, desto stärker wird ihre Anziehungskraft auf alle nur im
allgemeinen wissenschaftlich disponirten, nicht im einzelnen fixirten Naturen
sein. Daß man später in begreiflicher Selbsttäuschung den Thatbestand anders
ansieht und eine directe Berufung von innen heraus gerade für diese eine
Specialität empfangen zu haben vermeint, ändert an der Wahrheit des obigen
Satzes nichts. Für die altnordische Poesie und Literatur sind bisher viel


gänglichkeit. Beide müssen den Producten der nordischen Poesie fehlen, denn
ihr Charakter ist eben das vollständige Unberührtsein von der Weltcultur,
entweder weil diese wirklich nicht bis in den isolirten Norden gedrungen war,
oder weil dieser sich so lange in starrer Spröde gegen ihre gelegentlich an ihn
herandringenden Ausläufer, seien sie nun Christenthum oder die Romantik des
ritterlichen Idealismus, zur Wehre setzte.

Auch dem Norden ist es nicht möglich gewesen sich in seiner geistigen
Jsolirung zu behaupten, aber das was wir altnordische Poesie nennen, ge¬
hört auch dann noch dem früheren Zustand an, wenn es der Zeit nach schon
häufig aus einer wesentlich veränderten Umgebung des ganzen Lebens stammt.
Die nordischen Statten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts dichteten
in streng festgehaltener Tradition des Geistes und der Formen der Vergangen¬
heit gerade noch so wie einige Jahrhunderte vorher, als der Name und der Dienst des
Odin, Thor und Tyr noch eine Realität und nicht bloß eine Grimasse war.
Aehnlich wie die lateinische Poesie der Renaissance und was davon berührt
ist, den Apparat der antiken Kunst durch pure Reflexion aus dem Grabe herauf¬
beschwor und damit das erreichte, was erreicht werden mußte, Gespenster zu
scheinbarem Leben zu verkleiden, haben es auch jene altnordischen Dichter ge¬
than, nur daß es ihnen leichter gemacht war, weil sie innerhalb einer sorgfältig
gepflegten und niemals unterbrochenen Tradition standen. Aber ihre Wirkung
auf uns ist dieselbe, wie der andern, oder vielmehr eine noch viel fremdartigere,
weil der Apparat von poetischen Hülfsmitteln, mit denen die klassischeRenaissaneen-
poesie operirt, uns von der Schule her wohl bekannt ist, während wir uns
in den an sich noch viel complicirteren Apparat ihrer nordischen Wahlver¬
wandten erst durch mühsame Studien hineinarbeiten müssen.

Auch die eigentlichen Kenner werden aber darum hier immer sparsam zu
finden sein, weil man sich nur in Folge ganz besonderer Anregung oder Ver¬
anlassung in einen so fremdartigen 'Kreis begeben kann. Wer sich zu ge¬
schichtlichen, literarischen, ästhetischen oder linguistischen Studien bestimmt fühlt,
erhält, wie die Erfahrung zeigt, feine besondere Richtung innerhalb der allge¬
meineren Sphäre gewöhnlich nicht durch einen selbständigen Zug oder Jn-
stinct des eigenen Geistes, sondern durch den Einfluß maßgebender Persönlich¬
keiten, epochemachender wissenschaftlicher Leistungen, kurz von Andern und
von außen her. Je intensiver die gelehrte Thätigkeit innerhalb eines be¬
stimmten Feldes ist, desto stärker wird ihre Anziehungskraft auf alle nur im
allgemeinen wissenschaftlich disponirten, nicht im einzelnen fixirten Naturen
sein. Daß man später in begreiflicher Selbsttäuschung den Thatbestand anders
ansieht und eine directe Berufung von innen heraus gerade für diese eine
Specialität empfangen zu haben vermeint, ändert an der Wahrheit des obigen
Satzes nichts. Für die altnordische Poesie und Literatur sind bisher viel


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[0098] gänglichkeit. Beide müssen den Producten der nordischen Poesie fehlen, denn ihr Charakter ist eben das vollständige Unberührtsein von der Weltcultur, entweder weil diese wirklich nicht bis in den isolirten Norden gedrungen war, oder weil dieser sich so lange in starrer Spröde gegen ihre gelegentlich an ihn herandringenden Ausläufer, seien sie nun Christenthum oder die Romantik des ritterlichen Idealismus, zur Wehre setzte. Auch dem Norden ist es nicht möglich gewesen sich in seiner geistigen Jsolirung zu behaupten, aber das was wir altnordische Poesie nennen, ge¬ hört auch dann noch dem früheren Zustand an, wenn es der Zeit nach schon häufig aus einer wesentlich veränderten Umgebung des ganzen Lebens stammt. Die nordischen Statten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts dichteten in streng festgehaltener Tradition des Geistes und der Formen der Vergangen¬ heit gerade noch so wie einige Jahrhunderte vorher, als der Name und der Dienst des Odin, Thor und Tyr noch eine Realität und nicht bloß eine Grimasse war. Aehnlich wie die lateinische Poesie der Renaissance und was davon berührt ist, den Apparat der antiken Kunst durch pure Reflexion aus dem Grabe herauf¬ beschwor und damit das erreichte, was erreicht werden mußte, Gespenster zu scheinbarem Leben zu verkleiden, haben es auch jene altnordischen Dichter ge¬ than, nur daß es ihnen leichter gemacht war, weil sie innerhalb einer sorgfältig gepflegten und niemals unterbrochenen Tradition standen. Aber ihre Wirkung auf uns ist dieselbe, wie der andern, oder vielmehr eine noch viel fremdartigere, weil der Apparat von poetischen Hülfsmitteln, mit denen die klassischeRenaissaneen- poesie operirt, uns von der Schule her wohl bekannt ist, während wir uns in den an sich noch viel complicirteren Apparat ihrer nordischen Wahlver¬ wandten erst durch mühsame Studien hineinarbeiten müssen. Auch die eigentlichen Kenner werden aber darum hier immer sparsam zu finden sein, weil man sich nur in Folge ganz besonderer Anregung oder Ver¬ anlassung in einen so fremdartigen 'Kreis begeben kann. Wer sich zu ge¬ schichtlichen, literarischen, ästhetischen oder linguistischen Studien bestimmt fühlt, erhält, wie die Erfahrung zeigt, feine besondere Richtung innerhalb der allge¬ meineren Sphäre gewöhnlich nicht durch einen selbständigen Zug oder Jn- stinct des eigenen Geistes, sondern durch den Einfluß maßgebender Persönlich¬ keiten, epochemachender wissenschaftlicher Leistungen, kurz von Andern und von außen her. Je intensiver die gelehrte Thätigkeit innerhalb eines be¬ stimmten Feldes ist, desto stärker wird ihre Anziehungskraft auf alle nur im allgemeinen wissenschaftlich disponirten, nicht im einzelnen fixirten Naturen sein. Daß man später in begreiflicher Selbsttäuschung den Thatbestand anders ansieht und eine directe Berufung von innen heraus gerade für diese eine Specialität empfangen zu haben vermeint, ändert an der Wahrheit des obigen Satzes nichts. Für die altnordische Poesie und Literatur sind bisher viel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/98>, abgerufen am 23.07.2024.