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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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in dem innersten Kern des Gemüthslebens und der Seelenstimmung unser
eigenes Wesen selbst ist, welches durch alle Jahrtausende hindurch doch immer
dasselbe bleiben mußte, wenn es überhaupt eristiren wollte, kann nur dann
empfunden werden, wenn die eindringendsten Studien über die seltsamen Ver¬
schränkungen und Verzerrungen, in denen es seine Leiblichkeit gefunden hat, bis
in seine innerste Tiefe geführt haben. Arabische und persische Dichtung, in ihrer
letzten Seelensubstanz so völlig andersartig wie unser deutsches Wesen, wirken doch
viel unmittelbarer auf uns, weil sie eine viel allgemeingültigere Gestaltung gefun¬
den haben. Diese ist es, die in der Poesie überhaupt und mit Recht als das eigent¬
lich Wirksame empfunden wird und jenes bloß psychologische Moment hat an sich
keine Berechtigung als ein Maßstab für den poetischen Eindruck zu gelten. Weß-
halb die nordische Poesie zu ihrer unzugänglichen Eigenart gelangt ist, das aus¬
zuführen gehört nicht Hieher. Es genügt uns, die Thatsache selbst zu constatiren,
von der sich jeder, der noch nicht damit vertraut sein sollte, leicht überzeugen
kann, wenn er unbefangenen Sinnes etwa irgend ein beliebiges Lied der Sim-
rock'schen Edda liest.

Der treffliche Simrock sucht freilich die Ursache der auch ihm nicht ver¬
borgenen Theilnahmlosigkeit des Publicums gegen die Herrlichkeiten der alt¬
nordischen Kunst anderswo. Weil sie zu sehr von deutscher Art erfüllt ist.
soll sie nach seiner Meinung bei den Söhnen Teuts nichts gelten. Gewiß be¬
sitzen dieselben wohl nach dem sie beherrschenden sprüchwörtlichem Axiom: "Es
ist nicht weit her", eine oft nicht weiter erklärliche Antipathie gegen das Nächst¬
liegende und naturgemäße, und eine ebenso unerklärliche Sympathie für Alles
was durch die Seltsamkeit seines Auftretens den Schein ganz besonderer Ab¬
sonderlichkeit erweckt. Die Poesie der Edda würde indessen auch die weitest
gehenden Ansprüche an Absonderlichkeit erfüllen und insofern alle deutsche
Sympathien für sich haben, denn die rein auf gelehrtem Wege ermittelte
Thatsache, daß das nordische Volk und das deutsche zwei Stämme aus der¬
selben Wurzel sind, könnte gegen die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung gar nicht
ins Gewicht fallen, noch weniger das nur für die raffinirteste Kunst der historisch¬
genetischen Analyse erreichbare Resultat, daß die Seelensubstanz dieses altnordischen
und unseres eigenen Wesens ein und dieselbe ist. Für die so eng bemessene
Zahl der Kenner mag die Edda wirklich "nicht so weit her" sein, für die
große Zahl des gebildeten Publicums, welche Simrocks und alle andern Über¬
tragungen fremder Poesien ins Deutsche im Auge haben, ist und bleibt sie
sehr weit her und zwar so weit her, daß man über den befremdlichen Ein¬
druck der vollkommensten Abgeschlossenheit und Unverständlichkeit -- versteht
sich nicht im Sinn des Wörterbuchs und der Grammatik, oder des antiquari¬
schen Apparates -- gar schwer, oder gar nicht hinaus gelangt.

Es wird auch nichts helfen, wenn man dem deutschen Publicum von


in dem innersten Kern des Gemüthslebens und der Seelenstimmung unser
eigenes Wesen selbst ist, welches durch alle Jahrtausende hindurch doch immer
dasselbe bleiben mußte, wenn es überhaupt eristiren wollte, kann nur dann
empfunden werden, wenn die eindringendsten Studien über die seltsamen Ver¬
schränkungen und Verzerrungen, in denen es seine Leiblichkeit gefunden hat, bis
in seine innerste Tiefe geführt haben. Arabische und persische Dichtung, in ihrer
letzten Seelensubstanz so völlig andersartig wie unser deutsches Wesen, wirken doch
viel unmittelbarer auf uns, weil sie eine viel allgemeingültigere Gestaltung gefun¬
den haben. Diese ist es, die in der Poesie überhaupt und mit Recht als das eigent¬
lich Wirksame empfunden wird und jenes bloß psychologische Moment hat an sich
keine Berechtigung als ein Maßstab für den poetischen Eindruck zu gelten. Weß-
halb die nordische Poesie zu ihrer unzugänglichen Eigenart gelangt ist, das aus¬
zuführen gehört nicht Hieher. Es genügt uns, die Thatsache selbst zu constatiren,
von der sich jeder, der noch nicht damit vertraut sein sollte, leicht überzeugen
kann, wenn er unbefangenen Sinnes etwa irgend ein beliebiges Lied der Sim-
rock'schen Edda liest.

Der treffliche Simrock sucht freilich die Ursache der auch ihm nicht ver¬
borgenen Theilnahmlosigkeit des Publicums gegen die Herrlichkeiten der alt¬
nordischen Kunst anderswo. Weil sie zu sehr von deutscher Art erfüllt ist.
soll sie nach seiner Meinung bei den Söhnen Teuts nichts gelten. Gewiß be¬
sitzen dieselben wohl nach dem sie beherrschenden sprüchwörtlichem Axiom: „Es
ist nicht weit her", eine oft nicht weiter erklärliche Antipathie gegen das Nächst¬
liegende und naturgemäße, und eine ebenso unerklärliche Sympathie für Alles
was durch die Seltsamkeit seines Auftretens den Schein ganz besonderer Ab¬
sonderlichkeit erweckt. Die Poesie der Edda würde indessen auch die weitest
gehenden Ansprüche an Absonderlichkeit erfüllen und insofern alle deutsche
Sympathien für sich haben, denn die rein auf gelehrtem Wege ermittelte
Thatsache, daß das nordische Volk und das deutsche zwei Stämme aus der¬
selben Wurzel sind, könnte gegen die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung gar nicht
ins Gewicht fallen, noch weniger das nur für die raffinirteste Kunst der historisch¬
genetischen Analyse erreichbare Resultat, daß die Seelensubstanz dieses altnordischen
und unseres eigenen Wesens ein und dieselbe ist. Für die so eng bemessene
Zahl der Kenner mag die Edda wirklich „nicht so weit her" sein, für die
große Zahl des gebildeten Publicums, welche Simrocks und alle andern Über¬
tragungen fremder Poesien ins Deutsche im Auge haben, ist und bleibt sie
sehr weit her und zwar so weit her, daß man über den befremdlichen Ein¬
druck der vollkommensten Abgeschlossenheit und Unverständlichkeit — versteht
sich nicht im Sinn des Wörterbuchs und der Grammatik, oder des antiquari¬
schen Apparates — gar schwer, oder gar nicht hinaus gelangt.

Es wird auch nichts helfen, wenn man dem deutschen Publicum von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/96>, abgerufen am 23.07.2024.