Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

literarische Selbständigkeit, die mitunter etwas weiter ging als daß hochdeut¬
sche Bücher niederdeutsch ungeschrieben oder ungedruckt wurden. Ja, in
seinem äußersten nordwestlichen Abschnitt, in Holland, hat er es in Folge
großer geschichtlicher, socialer und commercieller Ereignisse noch zu etwas mehr
gebracht, zu einer abgeschlossenen Literatur, die in ihrer Sprache und in der
latenten Substanz ihres Geistes zwar ihre Zugehörigkeit zu der unsern nicht
verleugnen kann, aber in Stoff und Form sich mit Bewußtsein und geflissent¬
lich seit Jahrhunderten im Gegensatz zu der unsern ausgebildet hat.

So viel selbständiger das nordische Idiom als ein einheitliches im Gegen¬
satz zu dem deutschen betrachtet, auch immerhin im Vergleich mit dem hollän¬
dischen dem Linguisten auf den ersten Blick erscheint, so hat doch die nordische
Literatur bis an die neueste Zeit niemals gegen den gleichsam naturgemäßen
Zustand ihrer innigsten Anlehnung an die deutsche revoltirt. Ist ja doch
Kopenhagen noch bis in dieses neunzehnte Jahrhundert herein nicht nur einer
der günstigsten Märkte für den deutschen Buchhandel gewesen, es haben ja
auch die hervorragendsten nationalen Dichter jener Periode, ein Baggesen und
Oehlenschläger ihr Publicum nicht blos in den engen Marken ihres Vater¬
landes, sondern auch in dem ganzen großen Deutschland gesucht und gefunden.
Wollte man gewissenhaft nachspüren, so würde sich ergeben, daß beide nicht
blos durch und durch innerhalb der deutschen Bildung ihrer Zeit wurzeln und
in diesem Sinne eben so gut als Deutsche gelten dürfen, wie Steffens oder Niebuhr,
sondern auch da, wo sie in ihrer Muttersprache producirten, eigentlich dabei
deutsch dachten. Was also der Eitelkeit ihrer Landsleute als Originalgestalt
gilt, die dänische Redaction, ist in der That, gleichviel ob sie vor oder nach
der deutschen niedergeschrieben sein mag, doch nur die Uebersetzung oder Ueber-
tragung in ein der Seele des Dichters etwas ferner stehendes Idiom.

Heute darf man in Kopenhagen solche ketzerische Wahrheiten nur mit
Lebensgefahr aussprechen und die dort dominirende Clique bemüht sich, wenig¬
stens für die nächste Zukunft, alle solche unliebsamen Erinnerungen aus den
Köpfen ihres blindgläubigen und deshalb über alles Lernen und Wissen er¬
habenen Anhangs auszumerzen. Ja man hat nicht übel Lust, die ganze
dänische Sprache durch einen consequenten Purismus von Grund aus umzu¬
stürzen und alle Fäden zwischen ihr und dem Deutschen zu zerschneiden. Dem
steht nun allerdings die etwas hartnäckige Thatsache entgegen, daß die Hälfte
des gegenwärtigen dänischen Wörterbuchs direct aus dem deutschen entlehnt
ist und was noch mehr, daß der deutsche Sprachgeist alle Adern und Nerven
des dänischen durchdrungen hat. Es giebt hierfür keine Rqdicalcur, als wenn
man bis auf die sogenannte altdgnische Periode des 12. und. 13. Jahrhunderts
zurücklenken wollte, denn seit dem 14. Jahrhundert strömt das deutsche Element
schon massenweise herein, ohne daß damals oder in dem seither vergangenen


literarische Selbständigkeit, die mitunter etwas weiter ging als daß hochdeut¬
sche Bücher niederdeutsch ungeschrieben oder ungedruckt wurden. Ja, in
seinem äußersten nordwestlichen Abschnitt, in Holland, hat er es in Folge
großer geschichtlicher, socialer und commercieller Ereignisse noch zu etwas mehr
gebracht, zu einer abgeschlossenen Literatur, die in ihrer Sprache und in der
latenten Substanz ihres Geistes zwar ihre Zugehörigkeit zu der unsern nicht
verleugnen kann, aber in Stoff und Form sich mit Bewußtsein und geflissent¬
lich seit Jahrhunderten im Gegensatz zu der unsern ausgebildet hat.

So viel selbständiger das nordische Idiom als ein einheitliches im Gegen¬
satz zu dem deutschen betrachtet, auch immerhin im Vergleich mit dem hollän¬
dischen dem Linguisten auf den ersten Blick erscheint, so hat doch die nordische
Literatur bis an die neueste Zeit niemals gegen den gleichsam naturgemäßen
Zustand ihrer innigsten Anlehnung an die deutsche revoltirt. Ist ja doch
Kopenhagen noch bis in dieses neunzehnte Jahrhundert herein nicht nur einer
der günstigsten Märkte für den deutschen Buchhandel gewesen, es haben ja
auch die hervorragendsten nationalen Dichter jener Periode, ein Baggesen und
Oehlenschläger ihr Publicum nicht blos in den engen Marken ihres Vater¬
landes, sondern auch in dem ganzen großen Deutschland gesucht und gefunden.
Wollte man gewissenhaft nachspüren, so würde sich ergeben, daß beide nicht
blos durch und durch innerhalb der deutschen Bildung ihrer Zeit wurzeln und
in diesem Sinne eben so gut als Deutsche gelten dürfen, wie Steffens oder Niebuhr,
sondern auch da, wo sie in ihrer Muttersprache producirten, eigentlich dabei
deutsch dachten. Was also der Eitelkeit ihrer Landsleute als Originalgestalt
gilt, die dänische Redaction, ist in der That, gleichviel ob sie vor oder nach
der deutschen niedergeschrieben sein mag, doch nur die Uebersetzung oder Ueber-
tragung in ein der Seele des Dichters etwas ferner stehendes Idiom.

Heute darf man in Kopenhagen solche ketzerische Wahrheiten nur mit
Lebensgefahr aussprechen und die dort dominirende Clique bemüht sich, wenig¬
stens für die nächste Zukunft, alle solche unliebsamen Erinnerungen aus den
Köpfen ihres blindgläubigen und deshalb über alles Lernen und Wissen er¬
habenen Anhangs auszumerzen. Ja man hat nicht übel Lust, die ganze
dänische Sprache durch einen consequenten Purismus von Grund aus umzu¬
stürzen und alle Fäden zwischen ihr und dem Deutschen zu zerschneiden. Dem
steht nun allerdings die etwas hartnäckige Thatsache entgegen, daß die Hälfte
des gegenwärtigen dänischen Wörterbuchs direct aus dem deutschen entlehnt
ist und was noch mehr, daß der deutsche Sprachgeist alle Adern und Nerven
des dänischen durchdrungen hat. Es giebt hierfür keine Rqdicalcur, als wenn
man bis auf die sogenannte altdgnische Periode des 12. und. 13. Jahrhunderts
zurücklenken wollte, denn seit dem 14. Jahrhundert strömt das deutsche Element
schon massenweise herein, ohne daß damals oder in dem seither vergangenen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128019"/>
          <p xml:id="ID_241" prev="#ID_240"> literarische Selbständigkeit, die mitunter etwas weiter ging als daß hochdeut¬<lb/>
sche Bücher niederdeutsch ungeschrieben oder ungedruckt wurden. Ja, in<lb/>
seinem äußersten nordwestlichen Abschnitt, in Holland, hat er es in Folge<lb/>
großer geschichtlicher, socialer und commercieller Ereignisse noch zu etwas mehr<lb/>
gebracht, zu einer abgeschlossenen Literatur, die in ihrer Sprache und in der<lb/>
latenten Substanz ihres Geistes zwar ihre Zugehörigkeit zu der unsern nicht<lb/>
verleugnen kann, aber in Stoff und Form sich mit Bewußtsein und geflissent¬<lb/>
lich seit Jahrhunderten im Gegensatz zu der unsern ausgebildet hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_242"> So viel selbständiger das nordische Idiom als ein einheitliches im Gegen¬<lb/>
satz zu dem deutschen betrachtet, auch immerhin im Vergleich mit dem hollän¬<lb/>
dischen dem Linguisten auf den ersten Blick erscheint, so hat doch die nordische<lb/>
Literatur bis an die neueste Zeit niemals gegen den gleichsam naturgemäßen<lb/>
Zustand ihrer innigsten Anlehnung an die deutsche revoltirt. Ist ja doch<lb/>
Kopenhagen noch bis in dieses neunzehnte Jahrhundert herein nicht nur einer<lb/>
der günstigsten Märkte für den deutschen Buchhandel gewesen, es haben ja<lb/>
auch die hervorragendsten nationalen Dichter jener Periode, ein Baggesen und<lb/>
Oehlenschläger ihr Publicum nicht blos in den engen Marken ihres Vater¬<lb/>
landes, sondern auch in dem ganzen großen Deutschland gesucht und gefunden.<lb/>
Wollte man gewissenhaft nachspüren, so würde sich ergeben, daß beide nicht<lb/>
blos durch und durch innerhalb der deutschen Bildung ihrer Zeit wurzeln und<lb/>
in diesem Sinne eben so gut als Deutsche gelten dürfen, wie Steffens oder Niebuhr,<lb/>
sondern auch da, wo sie in ihrer Muttersprache producirten, eigentlich dabei<lb/>
deutsch dachten. Was also der Eitelkeit ihrer Landsleute als Originalgestalt<lb/>
gilt, die dänische Redaction, ist in der That, gleichviel ob sie vor oder nach<lb/>
der deutschen niedergeschrieben sein mag, doch nur die Uebersetzung oder Ueber-<lb/>
tragung in ein der Seele des Dichters etwas ferner stehendes Idiom.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_243" next="#ID_244"> Heute darf man in Kopenhagen solche ketzerische Wahrheiten nur mit<lb/>
Lebensgefahr aussprechen und die dort dominirende Clique bemüht sich, wenig¬<lb/>
stens für die nächste Zukunft, alle solche unliebsamen Erinnerungen aus den<lb/>
Köpfen ihres blindgläubigen und deshalb über alles Lernen und Wissen er¬<lb/>
habenen Anhangs auszumerzen. Ja man hat nicht übel Lust, die ganze<lb/>
dänische Sprache durch einen consequenten Purismus von Grund aus umzu¬<lb/>
stürzen und alle Fäden zwischen ihr und dem Deutschen zu zerschneiden. Dem<lb/>
steht nun allerdings die etwas hartnäckige Thatsache entgegen, daß die Hälfte<lb/>
des gegenwärtigen dänischen Wörterbuchs direct aus dem deutschen entlehnt<lb/>
ist und was noch mehr, daß der deutsche Sprachgeist alle Adern und Nerven<lb/>
des dänischen durchdrungen hat. Es giebt hierfür keine Rqdicalcur, als wenn<lb/>
man bis auf die sogenannte altdgnische Periode des 12. und. 13. Jahrhunderts<lb/>
zurücklenken wollte, denn seit dem 14. Jahrhundert strömt das deutsche Element<lb/>
schon massenweise herein, ohne daß damals oder in dem seither vergangenen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] literarische Selbständigkeit, die mitunter etwas weiter ging als daß hochdeut¬ sche Bücher niederdeutsch ungeschrieben oder ungedruckt wurden. Ja, in seinem äußersten nordwestlichen Abschnitt, in Holland, hat er es in Folge großer geschichtlicher, socialer und commercieller Ereignisse noch zu etwas mehr gebracht, zu einer abgeschlossenen Literatur, die in ihrer Sprache und in der latenten Substanz ihres Geistes zwar ihre Zugehörigkeit zu der unsern nicht verleugnen kann, aber in Stoff und Form sich mit Bewußtsein und geflissent¬ lich seit Jahrhunderten im Gegensatz zu der unsern ausgebildet hat. So viel selbständiger das nordische Idiom als ein einheitliches im Gegen¬ satz zu dem deutschen betrachtet, auch immerhin im Vergleich mit dem hollän¬ dischen dem Linguisten auf den ersten Blick erscheint, so hat doch die nordische Literatur bis an die neueste Zeit niemals gegen den gleichsam naturgemäßen Zustand ihrer innigsten Anlehnung an die deutsche revoltirt. Ist ja doch Kopenhagen noch bis in dieses neunzehnte Jahrhundert herein nicht nur einer der günstigsten Märkte für den deutschen Buchhandel gewesen, es haben ja auch die hervorragendsten nationalen Dichter jener Periode, ein Baggesen und Oehlenschläger ihr Publicum nicht blos in den engen Marken ihres Vater¬ landes, sondern auch in dem ganzen großen Deutschland gesucht und gefunden. Wollte man gewissenhaft nachspüren, so würde sich ergeben, daß beide nicht blos durch und durch innerhalb der deutschen Bildung ihrer Zeit wurzeln und in diesem Sinne eben so gut als Deutsche gelten dürfen, wie Steffens oder Niebuhr, sondern auch da, wo sie in ihrer Muttersprache producirten, eigentlich dabei deutsch dachten. Was also der Eitelkeit ihrer Landsleute als Originalgestalt gilt, die dänische Redaction, ist in der That, gleichviel ob sie vor oder nach der deutschen niedergeschrieben sein mag, doch nur die Uebersetzung oder Ueber- tragung in ein der Seele des Dichters etwas ferner stehendes Idiom. Heute darf man in Kopenhagen solche ketzerische Wahrheiten nur mit Lebensgefahr aussprechen und die dort dominirende Clique bemüht sich, wenig¬ stens für die nächste Zukunft, alle solche unliebsamen Erinnerungen aus den Köpfen ihres blindgläubigen und deshalb über alles Lernen und Wissen er¬ habenen Anhangs auszumerzen. Ja man hat nicht übel Lust, die ganze dänische Sprache durch einen consequenten Purismus von Grund aus umzu¬ stürzen und alle Fäden zwischen ihr und dem Deutschen zu zerschneiden. Dem steht nun allerdings die etwas hartnäckige Thatsache entgegen, daß die Hälfte des gegenwärtigen dänischen Wörterbuchs direct aus dem deutschen entlehnt ist und was noch mehr, daß der deutsche Sprachgeist alle Adern und Nerven des dänischen durchdrungen hat. Es giebt hierfür keine Rqdicalcur, als wenn man bis auf die sogenannte altdgnische Periode des 12. und. 13. Jahrhunderts zurücklenken wollte, denn seit dem 14. Jahrhundert strömt das deutsche Element schon massenweise herein, ohne daß damals oder in dem seither vergangenen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/91>, abgerufen am 22.07.2024.