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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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mußte. Almosen wollte man solchen Eltern entziehen, welche ihre Kinder
nicht zum Schulbesuch anhielten. 1808 strebte man die Errichtung einer Classe
an, um die "Vagabunden und kleinen Sträflinge" zu bergen. Von Seiten
des Hofes arbeitete man in den Schulen nach Goetheschem Standpunkte auf
Erlernung eines Gewerbes: denn man sah, daß in diesen Verhältnissen die
Möglichkeit eines Broderwerbs die besitzlosen und rohen Classen viel leichter vor
Unheil bewahre, als eine mangelhafte oder gar keine Schul-Bildung. Karl August
strebte Strohflechtschulen, die Herzogin Louise Strick- und Nähschulen an, deren
wir 1817 20, heute über 200 im Lande zählen. Damals unterrichteten bei
600 Kindern insgesammt 12 Lehrer incl. Seminaristen, heute haben wir an
den Volksschulen Weimars allein 37 Lehrer aufzuweisen. Erst im Anfang
dieses Jahrhunderts ist der Fortschritt in der Volksschule durch Classentheilung
möglich geworden.

Und auf welcher Stufe stand das Gymnasium? Wie bemerkt, von den hetero¬
gensten Schülern überfüllt, von bedeutenden Lehrkräften gestützt, aber auch von tief
unter dem Niveau der Zeit stehenden gefährdet, sollte es die höchsten Aufgaben
für das geistige Leben erfüllen! Wenn auch Männer an der Spitze standen, die
wie ein Böttiger, Lenz. Hand u. s. w. durch ihre wissenschaftliche Bedeutsam¬
keit das geistige Leben Weimar's in vorzüglichem Maße mit vertraten, so
lag die Unfähigkeit der Anstalt, auf deren Grundübel man tief einging, in
den complicirtesten Verhältnissen, welche wohl eine Gymnasialgeschichte, nicht
aber diese Skizze veranschaulichen kann. Wir deuten daher hier die Gründe
des Verfalls blos an. Man faßte das Uebel bei der Wurzel, als man eine
Säuberung von Lehrenden und Lernenden vornahm, nicht länger 86- und 80-
jährige Lehrer durch Seminaristen vertreten ließ, und dem Wirken von Lehrern
ein Ende machte, welche nur mit Hülfe arretirender Soldaten das Ansehen
bei ihren Schülern behaupteten! Es kam hinzu, daß materielles Wohlbefinden
des Directors von der Ueberfüllung der Anstalt abhing, weil Schulgeld, Neu¬
jahrs- und Geburtstagsgeschenke -- und wenn letztere auch nur in dem obliga¬
torischen Geschenke von je 6 Groschen bestanden -- zu den willkommenen Ein¬
nahmen gehörten. Daher kam die Ueberfüllung und Verschlechterung der
höchsten Bildungsanstalt, aus ihr der Mangel an Disciplin, ein Ballast,
der nur durch Trennung der verschiedensten Elemente, der Volks- und
gelehrten Schule sich beseitigen ließ. Leider läßt sich nachweisen, wie geistige
und materielle Armuth der Schüler die Wirksamkeit des Gymnasiums in jenen
Jahren geschädigt haben. Mancher unserer Vorfahren und unserer Mitleben¬
den gehörte nach dem Zuschnitt dieser Anstalt ihr nur nothgedrungen an.
Der berühmte Röhr machte noch die trüben Erfahrungen, daß Gymnasiasten
ihn um Unterstützung zur Beschaffung eines Lexikons auf offner Straße an¬
gingen und als 1816 das hundertjährige Jubiläum der Anstalt gefeiert wurde,


Grenzboten III. 1872. 8

mußte. Almosen wollte man solchen Eltern entziehen, welche ihre Kinder
nicht zum Schulbesuch anhielten. 1808 strebte man die Errichtung einer Classe
an, um die „Vagabunden und kleinen Sträflinge" zu bergen. Von Seiten
des Hofes arbeitete man in den Schulen nach Goetheschem Standpunkte auf
Erlernung eines Gewerbes: denn man sah, daß in diesen Verhältnissen die
Möglichkeit eines Broderwerbs die besitzlosen und rohen Classen viel leichter vor
Unheil bewahre, als eine mangelhafte oder gar keine Schul-Bildung. Karl August
strebte Strohflechtschulen, die Herzogin Louise Strick- und Nähschulen an, deren
wir 1817 20, heute über 200 im Lande zählen. Damals unterrichteten bei
600 Kindern insgesammt 12 Lehrer incl. Seminaristen, heute haben wir an
den Volksschulen Weimars allein 37 Lehrer aufzuweisen. Erst im Anfang
dieses Jahrhunderts ist der Fortschritt in der Volksschule durch Classentheilung
möglich geworden.

Und auf welcher Stufe stand das Gymnasium? Wie bemerkt, von den hetero¬
gensten Schülern überfüllt, von bedeutenden Lehrkräften gestützt, aber auch von tief
unter dem Niveau der Zeit stehenden gefährdet, sollte es die höchsten Aufgaben
für das geistige Leben erfüllen! Wenn auch Männer an der Spitze standen, die
wie ein Böttiger, Lenz. Hand u. s. w. durch ihre wissenschaftliche Bedeutsam¬
keit das geistige Leben Weimar's in vorzüglichem Maße mit vertraten, so
lag die Unfähigkeit der Anstalt, auf deren Grundübel man tief einging, in
den complicirtesten Verhältnissen, welche wohl eine Gymnasialgeschichte, nicht
aber diese Skizze veranschaulichen kann. Wir deuten daher hier die Gründe
des Verfalls blos an. Man faßte das Uebel bei der Wurzel, als man eine
Säuberung von Lehrenden und Lernenden vornahm, nicht länger 86- und 80-
jährige Lehrer durch Seminaristen vertreten ließ, und dem Wirken von Lehrern
ein Ende machte, welche nur mit Hülfe arretirender Soldaten das Ansehen
bei ihren Schülern behaupteten! Es kam hinzu, daß materielles Wohlbefinden
des Directors von der Ueberfüllung der Anstalt abhing, weil Schulgeld, Neu¬
jahrs- und Geburtstagsgeschenke — und wenn letztere auch nur in dem obliga¬
torischen Geschenke von je 6 Groschen bestanden — zu den willkommenen Ein¬
nahmen gehörten. Daher kam die Ueberfüllung und Verschlechterung der
höchsten Bildungsanstalt, aus ihr der Mangel an Disciplin, ein Ballast,
der nur durch Trennung der verschiedensten Elemente, der Volks- und
gelehrten Schule sich beseitigen ließ. Leider läßt sich nachweisen, wie geistige
und materielle Armuth der Schüler die Wirksamkeit des Gymnasiums in jenen
Jahren geschädigt haben. Mancher unserer Vorfahren und unserer Mitleben¬
den gehörte nach dem Zuschnitt dieser Anstalt ihr nur nothgedrungen an.
Der berühmte Röhr machte noch die trüben Erfahrungen, daß Gymnasiasten
ihn um Unterstützung zur Beschaffung eines Lexikons auf offner Straße an¬
gingen und als 1816 das hundertjährige Jubiläum der Anstalt gefeiert wurde,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/65>, abgerufen am 25.08.2024.